Kritik zu Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien
Bettina Böhler liefert in über zwei Stunden alles, was man zum Oberhausener Apothekersohn und Künstler erfahren will, Überdosis inbegriffen
Als Christoph Schlingensief vor zehn Jahren starb, verabschiedeten Feuilletons ihn mit ehrfürchtigen Nachrufen. Diese Affirmation war zu Beginn seines Schaffens nicht absehbar. Während der Pressevorführung von »100 Jahre Adolf Hitler – Die letzte Stunde im Führerbunker«, einem seiner frühen Werke von 1989, verließ einer der anwesenden Redakteure empört den Saal und schrie im Foyer lauter herum als die Akteure auf der Leinwand.
Bettina Böhler zeichnet nun nach, wie diese Ablehnung in Begeisterung umschlug und der belächelte Außenseiter zum etablierten Künstler wurde. Die renommierte Cutterin, die Filme namhafter deutscher Regisseure montierte, darunter Dani Levy, Oskar Roehler und Christian Petzold, macht das, was sie am besten kann. Ihr Film ist eine stimmig arrangierte Montage aus Filmzitaten, TV-Ausschnitten und Dokumentationen von Bühneninszenierungen sowie Schlingensiefinterviews. Auf eine kommentierende Außenperspektive wird konsequent verzichtet. Das Werk erklärt sich selbst.
In den schönsten Momenten zeigt der Film die Verwurzelung des Oberhausener Apothekersohnes in einer behüteten, bürgerlichen Familie. Ausschnitte aus seinen ersten Super-8-Filmen zeigen, dass der Junge aus der Generation Golf zunächst keinen Plan hatte. Die unfreiwillige Doppelbelichtung eines väterlichen Urlaubsfilms, der geisterhaft zwei Realitäten übereinanderblendete, inspirierte ihn dazu, disparate Phänomene aufeinanderprallen zu lassen. Eine Konstante dabei: Nazis, die er überall dazupackte, sogar bei seiner Züricher »Hamlet«-Inszenierung. Zornig war er nur darüber, dass er alles durfte und ihm niemand Einhalt gebot in seinem manischen Furor, der in der öffentlichen Aufforderung »Tötet Helmut Kohl!« gipfelte.
Böhlers Film macht diese Aktionen vor allem als Medieneffekte lesbar. Ein ums andre Mal warf Schlingensief einen Stein ins trübe mediale Gewässer, um das publizistische Echo als Kunst nutzbar zu machen. Etwa bei der Wiener Aktion »Ausländer raus! Schlingensiefs Container« oder dem Wolfgangssee-Happening, bei dem er dokumentieren ließ, wie Kameramänner sich beim Filmen gegenseitig filmten. Im Gegensatz zu seelenverwandten Dilettanten wie Jörg Buttgereit oder Wenzel Storch scharte Schlingensief als begnadeter Kommunikator charismatische Darsteller um sich. Helge Schneider, Alfred Edel, Udo Kier, Volker Spengler, Margit Carstensen, Irm Hermann und sogar Tilda Swinton füllten das konzeptionelle Vakuum seiner Film- und Regiearbeiten mit einer gefühlten Aura von Fassbinder und Jarman.
Mit Groucho Marx wollte Schlingensief nie Mitglied in einem Kunst- und Kulturbetrieb werden, der jemanden wie ihn als Mitglied akzeptieren würde. Und schließlich mit offenen Armen empfing. So erklomm das vermeintliche Enfant terrible schließlich den grünen Hügel Bayreuths, wo mit den Wagneropern der Inbegriff der elitären Kunst gefeiert wird. Böhlers 124-minütige Hommage ist zugleich eine Überdosis Schlingensief. Sinnlich erfahrbar wird dabei, wie die anfängliche Subversion des Aktionskünstlers sich zu einem weitgehend unanstößigen Konsens der Empörung wandelte.
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