Denis Villeneuve: Die Fremden sind wir
Denis Villeneuve am Set zu »Sicario« (2015). Foto: Luis Ricardo Montemayor Cisneros
Er ist ein Grenzgänger: zwischen Autorenfilm und Hollywood, französischer und englischer Sprache, Realismus und Fantastischem. Und es zieht ihn stets zu den dunklen Seiten der menschlichen Seele. Nach dem Drogenkrimi »Sicario« lädt er jetzt in »Arrival« zum Rendezvous mit Außerirdischen, in einem Jahr soll seine Fortsetzung von »Blade Runner« ins Kino kommen. Der Tonfall seiner Filme hat sich gewandelt, den philosophischen Themen um Gewalt, Traumata und Identität ist Denis Villeneuve aber treu geblieben. Patrick Seyboth über das Werk des kanadischen Regisseurs
Ein Fensterblick in eine karge, sonnenverbrannte Landschaft mit einer einzelnen Palme. Während die Kamera zurückfährt und die getragenen ersten Zeilen von Radioheads »You and Whose Army?« erklingen, finden wir uns in einem Raum mit einigen kleinen Jungen wieder. Bewaffnete Männer bewachen sie, rasieren ihnen die Haare. Büschel fallen zwischen nackte Kinderfüße und massive Soldatenstiefel. Zum Crescendo des Radiohead-Songs fährt die Kamera an eines der Kindergesichter heran, und der Junge erwidert den Blick, durchdringend und undurchdringlich. Wer er ist, werden wir erst am Ende des Films wissen.
Unvergessliche erste Szenen wie die von »Die Frau die singt – Incendies« (2010) sind fast schon ein Markenzeichen von Denis Villeneuve. Die dichte Komposition von Bildern und Tönen zieht den Betrachter hypnotisch in den Film hinein und entfaltet binnen Sekunden eine Wucht, der man sich kaum entziehen kann. Oft sind es Bilder der Gewalt: Sein Erstling »Der 32. August auf Erden« (1998) beginnt mit einem heftigen Autounfall, der den Zuschauer ebenso desorientiert wie die Protagonistin; »Polytechnique« (2009) mit einer Einstellung von Studenten an Kopiergeräten, unter denen Schüsse aus dem Off plötzlich ein blutiges Chaos anrichten; »Sicario« (2015) gleitet direkt in die brachiale Polizeirazzia auf dem Stützpunkt eines Drogenkartells.
Gewalt inszeniert Villeneuve mit bestürzender Härte. Dabei interessieren ihn vor allem deren Folgen. So kreisen seine Filme um Traumata, Verletzungen, Schuld und Rache, um die Verheerungen also, die Gewalt individuell und politisch anrichtet. In Sicario gerät die idealistische FBI-Agentin Kate Macer (Emily Blunt) in die Mechanik des Drogenkriegs. Nach dem Verlust mehrerer Kollegen lässt sie sich einer Spezialeinheit zuteilen, die Operationen jenseits der Grenze zu Mexiko – und jenseits der Legalität – durchführt. Das Grenzgebiet wird landschaftlich wie seelisch-moralisch kartographiert, als terrain vague, in dem Gut und Böse verschwimmen. Während Kate vom Wunsch nach Gerechtigkeit respektive Vergeltung getrieben wird und ihre ganz persönliche Höllenfahrt antritt, liegt eine Atmosphäre überpersönlicher, kalter Aggression über dem ganzen Film, nicht zuletzt evoziert durch die tiefen Drone-Sounds von Jóhann Jóhannsson. Wie etwa auch in »Incendies« oder »Prisoners« erscheint Gewalt hier als alles durchdringende archaische Energie, deren Spielball der Mensch wird, sofern er sich nicht mit der ganzen Kraft seiner Vernunft dagegenstemmt. Man könnte diesen Filmen die ersten Zeilen von Homers »Ilias« als Motto voranstellen: »Singe den Zorn, o Göttin...«
So realistisch Villeneuve die Oberflächen inszeniert und trotz deutlich politischer Konnotationen: »Sicario« ist keine »adäquate« Darstellung des Drogenkriegs an der mexikanischen Grenze. Und es sind auch dieser Hollywoodproduktion noch surreal überhöhte Bilder eingeschrieben: die Leichen etwa, die die Polizei am Anfang im Haus des Kartells findet, aufrecht in die Wände eingebaut, mit blutverkrusteten Gesichtern hinter Plastikfolie – ein bizarres Mausoleum ausgelöschter Identitäten.
Auch in seinem neuen Film »Arrival« kostet Villeneuve in der Ankunft außerirdischer Besucher das Bizarre und Rätselhafte aus, das sein Werk von Anfang an durchzieht. Zwar zeigt sich sein Stil inzwischen mainstreamkompatibel, nach wie vor aber folgt er seiner persönlichen Vision. Auch in Hollywood bleibt er ein Philosoph, dessen Blick vom Staunen über die Rätsel der menschlichen Seele und der Welt geprägt ist. Und die Wege seiner filmischen Erzählungen sind auch Wege ins Unbewusste der Figuren; seine Filme werden immer labyrinthischer, je näher man sie betrachtet.
Psychodrama und große Oper
Realismus und Phantasmagorie, Gewalt und Poesie, Pathos und Distanz sind die Pole, zwischen denen Denis Villeneuve sich seit Beginn seiner Karriere bewegt. 1967 in Trois-Rivières in der kanadischen Provinz Québec geboren, wollte er zunächst Insektenforscher werden, entschied sich dann aber für ein Filmstudium an der Université du Québec in Montréal. Damit kam er in eine höchst lebendige Filmszene. Zwar verfügt das Cinéma du Québec meist nur über kleine Budgets und erreicht selten die internationale Strahlkraft des englischsprachigen kanadischen Kinos eines David Cronenberg, Atom Egoyan oder Guy Maddin; in seiner Heimat erzielt es aber oft beachtliche Erfolge an der Kasse. Experimentierlust und
Enthusiasmus dieses Kinos beweisen etwa gerade wieder die Filme von Xavier Dolan, wie Villeneuve in Québec geboren, aber 20 Jahre jünger. Villeneuve erregte erste Aufmerksamkeit, als er 1990/91 den Wettbewerb »La course destination monde« von Radio Canada mit zwanzig Kurzfilmen gewann. 1994 folgte der 30-Minüter »REW-FFWD«, der auf ebenso wilde wie faszinierende Weise Imagination (eine Hypnosesitzung als Rahmung) und Dokumentarisches (Beobachtungen in Trenchtown, Jamaika) mischt. Nach einer Episode für das Kollektivwerk »Cosmos« (1996) inszenierte Villeneuve mit »Der 32. August auf Erden« (1998) und »Maelström« (2000) seine weltweit preisgekrönten ersten Spielfilme. Schon hier geht es ums Ganze, um Leben, Tod und Identität, um Orientierungslosigkeit und Sinnsuche – und wie auch später so oft stehen weibliche Figuren im Zentrum. Zwar sind beide Filme von sehr unterschiedlicher Gestimmtheit, dennoch erscheinen sie wie Variationen über ein Thema mit gleichen Prämissen. Es geht um Kämpfe um die eigene Identität angesichts von Entfremdung und schockhaften Erlebnissen. Beide Protagonistinnen arbeiten in der Modebranche, in beiden Fällen wird ein Autounfall zum Auslöser einer Krise. Im »32. August« wirft die junge Simone ihr Leben über den Haufen und beschließt, ein Kind zu bekommen, mit ihrem besten Freund Philippe. Dass es unbedingt in einer Wüste gezeugt werden soll, führt zu ungeahnten Komplikationen in diesem über weite Strecken erstaunlich leichten Film voll ironischer Dialoge, mit teils sprunghafter Nouvelle-Vague-Ästhetik und langen Einstellungen weiter Landschaften – auch dies ein Merkmal vieler Filme Villeneuves. Trotz seines reizvollen Mäanderns birgt der 32. August auch Momente irritierender Härte, etwa einen unvermittelten, brutalen Überfall auf offener Straße.
»Maelström« tritt weit exzentrischer auf, als pathosgetränkte große Oper, schicksalsschwer und doch surreal gebrochen: Der Erzähler ist ein Fisch in einem Schlachthaus, der darauf wartet, dass ihm der Kopf abgeschlagen wird. Er nutzt seine letzten Minuten, um die »sehr schöne Geschichte« von Bibiane zu erzählen, die nach einer Abtreibung und ersten Krisensymptomen einen Mann anfährt und tödlich verletzt. Die Folgen inszeniert Villeneuve in einer mystisch aufgeladenen Stimmung. Alles hängt hier mit allem zusammen, und ausgerechnet die Begegnung und die Romanze mit dem Sohn des Toten führen Bibiane dann zu einer Art Erlösung. In der Konfrontation mit ihrer Schuld findet sie einen Weg der Befreiung und ihre Identität.
Rückzug und Neubeginn
»Maelström« gewann Dutzende von Preisen und erntete überschwängliche Kritiken. Es schien, als stünden dem jungen Kanadier nun alle Wege offen – doch Villeneuve zog sich für mehrere Jahre ins Privatleben zurück. Auch aus künstlerischen Gründen: »Ich war damals nicht in der Lage, eine Idee auf stimmige Weise in ein Bild zu übersetzen. Außerdem hatte ich Angst vor Schauspielern. Ich verstand diese Spezies nicht.« So folgten Jahre des Lesens, Suchens und der Introspektion, ein paar Werbespots – und schließlich die Neuerfindung als Filmemacher.
Diese markierte zunächst der allegorische Zehnminüter »Next Floor« (2008) über eine sich buchstäblich ins Bodenlose fressende Orgie einer feinen Gesellschaft. 2009 und 2010 folgten mit »Polytechnique« und »Incendies« zwei Meisterwerke, stilistisch konzentrierter, reduzierter und harscher als die Vorgänger. Sinnsuche und Identitätsfragen sind seinen Filmen nun subtiler eingeschrieben, Gewalt und ihre Folgen rücken in den Vordergrund. Den Opfern und ihren Verletzungen, weniger den Tätern gehört Villeneuves Aufmerksamkeit.
So interessiert »Polytechnique« sich kaum für die Psychologie des jungen Mannes, der, von Frauenhass getrieben, 1989 an der École Polytechnique in Montréal ein Massaker anrichtete und 14 Frauen tötete. Zwar beginnt der Film mit seiner Perspektive und seiner Offstimme, folgt seinem Weg zur Tat, dann jedoch wendet er sich zwei Überlebenden der Schießerei zu: einem Studenten, der nicht darüber hinwegkommt, dass er den Täter nicht aufhalten konnte, und einer Studentin, die zurück ins Leben zu finden versucht. »Polytechnique« reflektiert den Einbruch verheerender – und bezeichnenderweise männlicher – Gewalt ins Alltagsleben in minimalistischer Ästhetik, in Schwarz-Weiß-Bildern von erstaunlicher Poesie. Ein Beleg dafür, wie Villeneuve klare Reflexion in emotionale Intensität zu übersetzen weiß.
Der Wahn der Welt
Noch erschütternder gelingt ihm dies in »Incendies«, der gar nicht theaterhaften Adaption eines Stücks von Majdi Mouawad. An zahlreichen Schauplätzen, mit vielen Figuren und weiten Landschaftsbildern inszeniert, erzählt »Incendies« (Verbrennungen) eine Familiengeschichte als detektivische Recherche: Auf den Spuren ihrer soeben verstorbenen Mutter reisen die Tochter und dann auch ihr Zwillingsbruder aus Kanada in ein nicht näher bezeichnetes Land des Nahen Ostens, das an den Libanon erinnert; auf einer zweiten Zeitebene schildert der Film die unfassbaren Erlebnisse der noch jungen Mutter im Bürgerkrieg, in dem Christen und Muslime einander abschlachten. Die Suche der Zwillinge nach ihrem unbekannten Vater und einem Bruder, von dem sie zuvor nicht einmal wussten, dass er existiert, enthüllt eine Tragödie von antiken Dimensionen – in einer Konstruktion von ungeheurem Pathos. Dieses ist allerdings so meisterhaft gehandhabt, dass der Betrachter Unwahrscheinlichkeiten und Überzeichnungen klaglos hinnimmt. Die Monstrosität der Verwandtschaftsverhältnisse wird zur Parabel auf den alles verschlingenden Wahnsinn von Gewalt und Gegengewalt. Zugleich aber setzt die Geschichte mit einer weiteren, cleveren Volte ein Zeichen der Hoffnung. Der Kreislauf der Gewalt kann durchbrochen werden, durch individuelle Akte der Gerechtigkeit und Vergebung.
Brüchige Männlichkeit
Nach dieser Reise ins Herz der Finsternis – ein überragender, von einer Oscarnominierung gekrönter Erfolg – nahm Villeneuve sich vor, etwas Leichteres zu inszenieren. Das hat nicht geklappt. Immerhin wurde sein nächstes Projekt intimer, kleiner und, wie er selbst sagt, sein bisher persönlichster Film. Zugleich markiert »Enemy«, noch in Kanada, doch auf Englisch gedreht, gemeinsam mit dem danach inszenierten, doch zuerst veröffentlichten »Prisoners«, den Übergang nach Hollywood.
Der Kontrast zwischen den beiden Werken könnte kaum größer sein, obwohl beide echte »Männerfilme« sind, mit Jake Gyllenhaal in den Hauptrollen. In ihm hatte Villeneuve einen idealen Partner zum Experimentieren und Improvisieren gefunden. So konnte er bei »Enemy« (2013) wie in einem »Laboratorium« Neues ausprobieren, mit viel Zeit und überschaubarem Team, ohne den Druck eines großen Budgets. Stilistisch besinnt sich die Verfilmung eines Romans von José Saramago zurück auf das Surreale, diesmal aber konsequent als Phantasmagorie und in die Atmosphäre eines Alptraums gefasst. In einem verfremdeten Toronto, smogverhangen und gelbstichig wie eine Stadt im Süden, entspinnt sich ein Doppelgänger-Plot um einen gelangweilten Mann – ein Geschichtsprofessor scheinbar ohne Geschichte, ohne »Leben«, wie so viele Figuren bei Villeneuve –, der eines Tages in einem Film sein wandelndes Spiegelbild entdeckt: einen Kleindarsteller mit geringem Erfolg, doch hohem Selbstbewusstsein. Die Auflösung einer ohnehin wacklig aufgestellten männlichen Identität in einem bedrohlichen Gegenüber, das Spiel auch mit sexuellen Fantasien und Ängsten, vollzieht sich filmisch in Spiegelungen, Wiederholungen und bizarren Symbolen. So residiert eine gigantische Spinne über der Stadt, inspiriert von Louise Bourgeois' Skulptur mit dem beziehungsreichen Titel »Maman«.
Labyrinthe der Seele
Der eigenwillige, chamäleonartig die Stile wechselnde und immer wieder zur Hermetik tendierende Kanadier und Hollywood – das schien zunächst schwerlich zusammenzupassen. Mit »Prisoners« tat Villeneuve trotzdem den Schritt in die Traumfabrik, und er fand dort offenbar ideale Partner, die ihm künstlerische Freiheit ermöglichten: Produzenten wie Kira Davis oder Basil Iwanyk und geniale Mitstreiter wie die Editoren Joel Cox und Joe Walker sowie Kameramann Roger Deakins, dessen kreativen Anteil an seinen Filmen Villeneuve besonders hervorhebt.
»Prisoners«, »Sicario« und jetzt auch »Arrival« erfüllen alle Erwartungen an Hollywoodproduktionen, was Spannungsdramaturgie, Schauwerte und Stars angeht. Und sie sind kommerziell erfolgreich. Dennoch bewahren sie nicht nur die philosophische Handschrift ihres Regisseurs, sondern bergen nach wie vor Elemente des Subversiven und Labyrinthischen, sind voll beunruhigender Ambivalenzen, nicht nur moralischer. Der scheinbar geradlinige Thriller-Plot von »Prisoners« (2013) um die Entführung zweier Kinder bespielt einen vertrackten metaphorischen Untergrund mit finsteren Bibelverweisen. Wieder einmal ist der Schauplatz, eine verregnete Ödnis aus Einfamilienhäusern, eher ein seelischer als ein geografischer Ort in den USA. Und der von Hugh Jackman gespielte Vater eines entführten Mädchens, der aus Verzweiflung zum Entführer und Folterer eines Verdächtigen wird, trägt nicht umsonst den ungewöhnlichen Vornamen »Keller«. »Prisoners« weist eine fast schon groteske Dichte von Verliesen, Gruben und Labyrinthen auf. Seine Protagonisten sind allesamt Gefangene, im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn.
Endlich angekommen
Das »krumme Holz«, aus dem laut Kant die Menschen gemacht sind und aus dem nie etwas ganz Gerades werden kann – in der Welt Denis Villeneuves herrschen darüber keine Illusionen, alles ist von Widersprüchen und Grenzüberschreitungen geprägt. Am ehesten scheinen Frauen fähig, fatale Dynamiken zu durchschauen. So ruht auch in »Arrival« die Hoffnung auf der von Amy Adams gespielten Linguistin, die mit den auf der Erde gelandeten Außerirdischen kommunizieren soll, um Missverständnisse – also den Krieg – zu vermeiden. Damit ist Denis Villeneuve endlich in seinem erklärten Lieblingsgenre Science-Fiction angekommen. Kubricks »2001« hat er bereits in »Der 32. August auf Erden« mit einer liebevollen kleinen Schwerelosigkeitsparodie seine Reverenz erwiesen. Jetzt stellt er das Thema Alien-Besuch, bisher fast immer kriegerisch imaginiert (»Independence Day«) oder überemotionalisiert (»E.T.«, »Contact«), vom Kopf auf die Füße: Wie könnten wir überhaupt verstehen, was eine außerirdische Intelligenz von uns will? Wie könnte eine solche Begegnung mit dem Fremden schlechthin aussehen? Und wie würde die Menschheit in ihrem fatalen Hang zu militärischen »Lösungen« mit der Angst vor dem Fremden umgehen? Villeneuves Erkundung dieser philosophischen Fragen fällt, wie nicht anders zu erwarten, geheimnisvoll, komplex und ungemein faszinierend aus.
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