Kritik zu Prisoners
Denis Villeneuves Verfilmungvon Aaron Guzikowskis düsterem Scriptüber eine Kindesentführung wirft eine jener Fragen auf, die den Zuschauer in seinem moralischen Kern treffen
Das Bild, das wir Europäer uns vom amerikanischen Kleinstadtleben machen, magvon zahlreichen Vorurteilen bestimmt sein. Zugleich aber wird es stark vom Selbstbild der Einwohner geprägt, die sich als Bewahrer von Grundwerten und Traditionen begreifen. Nicht selten nehmen sie ihre Existenz als Belagerungszustand wahr, fühlen sich beispielsweise gern von der Regierung in ihrer Selbstbestimmung eingeschränkt. Die Wachsamkeit der ersten Siedler steckt wohl noch in ihren Genen. Ein Blick in den Vorratsraum von Keller Dover (Hugh Jackman) zeigt, dass der Bauunternehmer sich für den Ernstfall gewappnet hat. Die gehorteten Lebensmittel reichen aus, um einem Atomschlag für einige Monate zu trotzen. Auf das Unglück, das seine Familie ereilt, kann ihn jedoch keine Vorsicht der Weltvorbereiten: Während sie mit Freunden Thanksgiving feiern, verschwinden die kleinen Töchter der beiden Familien spurlos. Rasch wird klar, dass sie entführt wurden. Und bald ist in Alex Jones (Paul Dano) auch ein Verdächtiger gefunden, dem die Polizei vorerst aber nichts nachweisen kann.
Während seine Frau (Maria Bello) in Katatonie verfällt, nimmt Keller die Dinge selbst in die Hand. Er entführt Jones und schreckt auch vor Folter nicht zurück, um von ihm das Versteck der Kinder zu erfahren. Von dem ermittelnden Polizisten Loki (Jake Gyllenhaal) heißt es zwar, dass er bisher jeden Fall gelöst hat. Aber die tiefen Ringe und der nervöse Tick des einsamen Mannes schüren erst mal beträchtliche Zweifel, ob er der Aufgabe gewachsen ist.
Mit einer Dauer von zweieinhalb Stunden ist Prisoners kein kurzer Film. Das getragene Tempo, das erst im letzten Akt enorm an Fahrt aufnimmt, verortet ihn zwischen Thriller und Charakterdrama. Loki ist ein langsamer Ermittler und Jones ein widerständiger Gefangener. Aaron Guzikowskis Drehbuch folgt zahlreichen Spuren, von denen sich am Ende verblüffend viele als richtig erweisen werden. Guzikowski versteht es, mit Motiven hauszuhalten (achten Sie nur einmal auf die Vielzahlakustischer Warnsignale, die aus Autos und von einer Trillerpfeife erklingen). Das Verstreichen kostbarer Zeit verleiht den Schrecknissen, die zutage treten, trauriges Gewicht. Der umsichtige, auf bezeichnenden Details verweilende Erzählrhythmus, den der Kanadier Denis Villeneuve seinem ersten US-Film gibt, schafft eine atmosphärische Gewissheit, dass diese Kleinstadt nicht nur von einer wirtschaftlichen Krise heimgesucht wird.
Wie in Die Frau, die singt kann sich auch hier die Gegenwart nicht aus dem Klammergriff der Vergangenheit lösen. Von der ersten Einstellung an, in der das Vaterunser während einer Jagdszene aus dem Off zuhören ist, zieht sich eine Motivkette umfassender, beklemmender Religiosität durch den Film. Der Zorn, dem Jackman wuchtige Gestalt gibt, hat wenig mit dem seines Wolverine gemeinsam: Er ist alttestamentarisch. Prisoners zeigt eine Gesellschaft, die sich vor dem Bösen fürchtet, das von außen in sie einbricht. Aber vor sich selbst muss sie am meisten Angst haben. Wie nur werden die verzweifelten Figuren dieses Films mit dem leben können, was sie getan haben?
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