Das neue israelische Kino
»Tel Aviv on Fire« (2018). © MFA+ Filmdistribution
Israels Filmszene ist vielfältig – und wird auch im Ausland verstärkt wahrgenommen. Zum Start von »Tel Aviv on Fire« liefert Thomas Abeltshauser einen Überblick
Salam ist Palästinenser und lebt in Jerusalem. Der 30-Jährige arbeitet für seinen Onkel, der in Ramallah eine Seifenoper produziert: Die Spionageromanze »Tel Aviv in Flammen« erzählt vom Ausbruch des Sechstagekriegs 1967, feiert den palästinenischen Widerstand – und ist bei Palästinensern und Israelis gleichermaßen populär. Beim Pendeln vom Wohnort zur Arbeit muss Salam täglich den Grenzübergang zu den palästinensischen Autonomiegebieten passieren; Assi, der israelische Kommandeur des Checkpoints, findet bei ihm zufällig – eigentlich ist Salam nur Praktikant – das Drehbuch der kommenden Episode und hat prompt ein paar zwingende Änderungsvorschläge, vor allem zur Figur des »bösen« israelischen Generals in der Serie, mit dem Assi sich identifiziert. Schließlich ist seine Frau glühender Fan der Show, und er hofft, ihr mit einer Romanze zwischen dem General und der arabischen Spionin zu imponieren.
Die Komödie »Tel Aviv on Fire« von Sameh Zoabi, der in einem palästinensischen Dorf in der Nähe von Nazareth aufgewachsen ist und in Tel Aviv studiert hat, nimmt mit Sinn für absurden Humor und zugleich versöhnlicher Geste das ewige Nachrichtenthema »Nahostkonflikt« aufs Korn und rückt augenzwinkernd so manches Vorurteil im ideologischen Grabenkampf gerade. Der Spielfilm ist damit durchaus charakteristisch für das Gegenwartskino Israels, das sich auf höchst unterschiedliche, auch widersprüchliche Weise dem Alltag, der Geschichte und den kollektiven Traumata des Landes widmet. Vor allem in den letzten 15 Jahren erlebte es eine Blüte und wird inzwischen auch verstärkt international wahrgenommen. Neben den für den heimischen Markt gedrehten Komödien, die in ihrem eskapistischen Lebensgefühl nicht selten an die komisch-persiflagehaften Bureka-Filme der 1960/70er Jahre und die »Eis am Stil«-Reihe der 1980er erinnern, gibt es seit geraumer Zeit eine erstaunliche Bandbreite an Themen und Genres zu entdecken.
Neben den beiden großen Festivals in Jerusalem und Haifa, die seit Jahren als wichtige Foren für das Filmschaffen des Landes arbeiten, sind israelische Spiel- und Dokumentarfilme auch regelmäßig auf die internationalen A-Festivals eingeladen und werden dort nicht selten ausgezeichnet. Samuel Maoz' Regiedebüt »Lebanon« über seine Erfahrungen als Soldat im Libanonkrieg gewann 2009 den Goldenen Löwen in Venedig; in diesem Jahr ging der Goldene Bär für den besten Film des Berlinale-Wettbewerbs an das Migrantendrama »Synonymes« des israelischen Regisseurs Nadav Lapid (Kinostart: 5. September). Beide Filme basieren auf den Erfahrungen ihrer Regisseure und ihrem kritischen Verhältnis zur eigenen Heimat; sie betrachten ihre persönlichen Traumata als symptomatisch für die kollektive Erinnerung. Und ecken damit durchaus an. Mit seinem letzten Film »Foxtrot« (2017) über eine Familie, die um ihren im Militärdienst verstorbenen Sohn trauert, sorgte Maoz in seiner Heimat gar für einen Eklat. Die Ministerin für Kultur und Sport, Miriam Regev, übte harsche Kritik; sie war der Auffassung, der Film bringe Schande über die israelische Armee. Dabei hatte sie ihn gar nicht gesehen, ebensowenig ein Großteil der aufgebrachten Kommentarschreiber: Die Debatte brach los, noch bevor »Foxtrot« angelaufen war. Der Vorfall macht die zum Teil verhärteten Fronten im Kulturkampf des Landes deutlich, angestachelt durch die rechtskonservative Regierung, die immer wieder Einfluss zu nehmen versucht. Die Filmemacher lassen sich davon nicht abschrecken, im Gegenteil. Die Streitkultur ist ein hohes Gut in Israel.
Den Libanonkrieg 1982 und die persönlichen wie kollektiven Traumata hat nicht nur Maoz in seinem Debüt verarbeitet, sondern bereits ein Jahr zuvor Ari Folman mit seinem animierten Dokumentarfilm »Waltz with Bashir« (2008). Kriegs- und Militärerfahrungen sind in Israel allgegenwärtig und schlagen sich in den Filmen nieder, vom jüngst restaurierten Klassiker, dem surrealen Anti-Kriegsfilm »Avanti Popoli« von 1986 über Eytan Fox' schwule Armee-Romanze »Yossi & Jagger« (2002) bis zur Tragikomödie »Zero Motivation« (2014) von Talya Lavie über den öden Alltag junger Soldatinnen.
Nicht alle Filme kreisen um die Vergangenheit oder die politischen Konfliktherde der Region; viele reflektieren soziale und gesellschaftliche Themen. Es gibt exzellent inszenierte Gegenwartsdramen wie »Scaffolding« (2017) über einen Jungen aus dem Arbeitermilieu, der gegen den Willen seines Vaters einen Schulabschluss machen will, oder »Get – Der Prozess der Viviane Amsalem« (2014) über den Kampf einer Israelin vor dem jüdisch-orthodoxen Rabbinatsgericht um die Scheidung von ihrem Ehemann, der seine Zustimmung verweigert.
Das Leben chassidischer Juden zwischen Tradition und Freiheitsdrang ist vermehrt Thema, oft aus der Innenperspektive wie in »An ihrer Stelle« (2012) und »Eine, die sich traut« (2016), den ersten Langfilmen einer orthodoxen Regisseurin, Rama Burshtein. Sie bieten, ganz ohne Exotismus, einen Blick in eine sonst oft abgeschirmte Welt – und dies mit den Mitteln der Romantikomödie! Auch das Vater-Tochter-Drama »The Driver« (2017) spielt in der ultraorthodoxen Gemeinde Jerusalems, aus der Regisseur Yehonatan Indursky selbst stammt.
Das komplizierte Verhältnis zwischen Gläubigen und Atheisten, aber auch zwischen Israelis und Deutschen, verhandelt das Liebesdrama »The Cakemaker« des in Berlin lebenden israelischen Regisseurs Ofir Raul Graizer, das im vergangenen November in den deutschen Kinos anlief und mit sieben Ophir Awards, den israelischen Filmpreisen, ausgezeichnet wurde. Graizer erzählt in seinem Debüt von einem Berliner Bäcker, der nach Jerusalem reist, um die Familie seines heimlichen Geliebten zu finden, der bei einem Unfall ums Leben kam.
Viele Filme zeichnen sich durch lakonischen Humor aus, etwa die von Eran Kolirin wie die erfolgreiche Arthousekomödie »Die Band von nebenan« (2007), in der ein ägyptisches Polizeiorchester in einem israelischen Provinzkaff strandet, oder »Beyond the Mountains and The Hills« (2016) über eine dysfunktionale Familie, deren Mitglieder verzweifelt versuchen, in dieser zutiefst gespaltenen Gesellschaft anständig und human zu handeln. Eine Gratwanderung zwischen leiser Komik und Melancholie sind auch Asaph Polonskys »Ein Tag wie kein anderer« (2016), in dem ein Vater in der Trauerwoche nach dem Tod seines Sohnes mit dem Nachbarjungen kifft, und die Tragikomödie »Am Ende ein Fest« (2014) über die Bewohner eines Seniorenheims, die sich mit aktiver Sterbehilfe beschäftigen. Bisweilen mag der staubtrockene Humor dieses Films gewöhnungsbedürftig sein, dabei begegnet er seinen Figuren auf Augenhöhe und ist vor allem eins: zutiefst menschlich. Aber es darf natürlich auch mal etwas derber werden, wie in der Fußballsatire »90 Minuten – Bei Abpfiff Frieden« (2016), in der sich Israelis und Palästinenser auf dem Stadionfeld gegenüberstehen und der Konflikt dort ein für allemal gelöst werden soll.
Israel ist eine multikulturelle Gesellschaft, das spiegelt sich auch im Filmschaffen wider. »Sandstorm« (2016) spielt in einer Beduinengemeinde, »Die syrische Braut« (2004) in einem drusischen Dorf, die Tragikomödie »Personal Affairs« (2016) handelt von einer palästinensischen Familie im Grenzgebiet. Und in der charmanten Satire »Holy Air« (2017) verkauft ein arabischer Christ in Nazareth Fläschchen mit »heiliger« Luft an gläubige Touristen. Abseits von Klischees oder damit spielend, erzählen diese Filme davon, wie verschiedene Ethnien und Bevölkerungsgruppen zusammenleben – oder zumindest nebeneinander.
Zu einem deutschen Verleih und damit einem Kinostart schafft es jedoch nur ein Bruchteil der Filme, oft sind es die Produktionen mit deutscher Beteiligung. Angesichts der Größe des Landes und einer Bevölkerung von etwa neun Millionen ist die Branche auf internationale Finanzpartner angewiesen, vor allem aus Deutschland und Frankreich. Gelegenheiten, sich hierzulande einen Überblick zu verschaffen, sind spezialisierte Festivals, allen voran das Jüdische Filmfest Berlin Brandenburg (8. bis 17. September), das in diesem Jahr sein 25. Jubiläum begeht, immer auch einen Schwerpunkt auf israelisches Kino legt und dabei dezidiert einen differenzierten Blick ermöglichen will.
Einen besonderen Stellenwert in der israelischen Produktionslandschaft haben Dokumentarfilme, in denen in teils sehr persönlichen Geschichten Erinnerungskultur gelebt, Probleme unterschiedlicher Ethnien und Religionen ausgehandelt werden und die Gesellschaft sich letztlich ihrer selbst vergewissert. Das reicht von der Zeugenschaft des Holocaust und der Diaspora, den unterschiedlichsten Lebenswegen seit der Staatsgründung 1948, über Aufarbeitung diverser Kriegserfahrungen 1967, 1973 und 1982 bis zur Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der Gegenwart und nicht zuletzt kulinarischen Fragen.
Lange waren es vor allem Kurzfilme aus den zahlreichen Filmhochschulen des Landes, die international Preise abräumten, allen voran die Sam Spiegel School in Jerusalem, seit Jahren eine der weltweit führenden Ausbildungsstätten; etliche Regisseure der jüngeren Generation wie Lapid und Burshtein machten dort ihren Abschluss.
Eine weitere Erfolgsgeschichte ist die Serienbranche Israels. In den letzten Jahren waren immer wieder Produktionen Vorlage für US-Remakes (»In Treatment«, »Homeland«) und etliche sind mittlerweile dank Streamingdiensten wie Netflix (das Terrordrama »Fauda«, »Shtisel« über eine ultra-orthodoxe Familie in Jerusalem etwa) auch im Original in Deutschland zu sehen.
So unterschiedlich, schillernd und widersprüchlich all diese Formate sind, zeigen sie vor allem eins: den gesellschaftlichen Pluralismus Israels, der sich durchaus mit der politischen Realität einer rechtskonservativen Regierung auseinandersetzt, sich davon aber nicht unterkriegen lässt. Die Filme zeichnen ein vielschichtiges Bild des Landes und seiner Geschichte, seiner Kultur und Bewohner, jenseits der aktuellen Nachrichten.
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