China: Zwischen Markt und Zensur
»Bis dann, mein Sohn« (2019) © Piffl Medien
Die chinesische Kinobranche boomt; das Land importiert US-Filme. Aber wie frei sind die Autorenfilmer? Dürfen sie heute die Kulturrevolution miesmachen?
Die Preisverleihung der diesjährigen Berlinale wird man in China mit gemischten Gefühlen betrachtet haben. Sie stellte einen kleinen Triumph dar, der manch bitteren Nachgeschmack hinterließ.
»Bis dann, mein Sohn« von Wang Xiaoshuai wurde als Favorit für den Goldenen Bären gehandelt; zweifellos hätte das Familienepos, dessen raffinierte Verschachtelung der Zeitebenen das Publikum vor eine kluge Herausforderung stellt, auch einen Silbernen Bären für das beste Drehbuch verdient gehabt. Die Darstellerpreise an Yong Mei und Wang Jinchun wogen diese Versäumnissse auf: Die beiden tragen den Film über seine Länge von drei Stunden wundervoll. Als sie in ihren Dankesreden von den »schwierigen Umständen« sprachen, unter denen Wangs Film entstand, zeigten sich die glücklichen Gewinner als ebenso redliche wie feinsinnige Diplomaten. Ihre Worte waren durchaus auch als Kommentar auf die Unberechenbarkeit der chinesischen Zensur lesbar.
Immerhin war »One Second« von Zhang Yimou wenige Tage zuvor plötzlich aus dem Wettbewerb zurückgezogen worden. Im Branchenblatt »The Chinese Filmmarket« war er noch als nostalgischer Rückblick auf die Filmbranche der 1970er angekündigt; nun stellte sich heraus, dass er während der Kulturrevolution spielt und ein Protagonist aus einem Umerziehungslager flieht. Dass die sozialkritische Liebesgeschichte »Better Days« von Derek Tsang nicht im Jugendprogramm laufen würde, war bereits vier Tage vor Festivalbeginn verkündet worden. Im Gegenzug war Lou Yes »Shadow Play«, ein Thriller über Bauskandale und Korruption, der bereits für die Berlinale 2018 eingeplant gewesen war, zu sehen.
Die Festivalpräsenz chinesischer Filme ist in diesem Jahr zu einem Lotteriespiel geworden. »One Second« und »Better Days« waren die ersten von bislang vier Produktionen, deren Beteiligung kurzfristig abgesagt wurde – stets mit derselben Begründung: technische Probleme. Der Bann der chinesischen Regierung traf auch Bong Joon-hos »Parasite«, der eigentlich das Festival von Shanghai hätte eröffnen sollen. Bei einem Film, der wenige Monate zuvor in Cannes die Goldene Palme gewonnen hatte, war es natürlich absurd, der Technik die Schuld zu geben. Peking hielt dennoch an der Sprachregelung fest. Hegte das Regime wirklich die Hoffnung, es könne kaschieren, dass ihm die Herkunft des Films – aus Südkorea, mit dem die Volksrepublik in schweren Handelskonflikten steckt – unlieb war?
Die Entscheidungen der staatlichen Zensur in China sind notorisch unwägbar; sie waren immer auch von regionaler Willkür geprägt. Es gibt Konstanten. Bestimmte Themen sind nach wie vor mit einem Tabu belegt: die verheeerenden Hungersnöte während Maos langen Marschs; die Kulturrevolution; die Unabhängigkeit Taiwans; die Ein-Kind-Politik und das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Es könnten neue hinzukommen: die Haltung zum renitenten Hongkong oder die Darstellung der enormen Einkommensunterschiede, die seit Dengs Wirtschaftreformen von 1979 längst auch Blüten protzigen Luxus' treiben. Aber diese Verbote sind nicht unumstößlich; sie lassen Schattierungen zu.
Wang zeichnet in »Bis dann, mein Sohn« immerhin ein vielschichtiges Bild eines Gesellschaftssystems, dessen Führung mit seiner Ein-Kind-Politik brutal in das Familienleben eingriff. In seinem »Director's Statement« klingt dieselbe Umsicht an, die die Wortwahl seiner Darsteller in Berlin bestimmte. Er spricht von »tiefgreifenden Veränderungen«, die Einzelpersonen (»einfache, gutherzige Leute«) ebenso betrifft wie die Gesamtgesellschaft. Wenn er von Fehlern, Schuld und Vergebung spricht, bleibt er auf der Ebene individueller Erfahrung –
das Regime hat keine Schuld an dem tragischen Unfall, der das Leben seiner Figuren aus der Bahn wirft –, lässt aber zugleich sacht an das Ritual der Selbstbezichtigung denken, das die Säuberungen in der politischen Kaste prägte. Der Regisseur weiß, dass sein Film nicht unverfänglich ist. Im Interview mit »Le Monde« äußerte er sich im Juli diesen Jahres mit größerer Ambivalenz: »Ich erzähle von Leuten, die sich nicht für Politik interessieren, für die sich aber die Politik interessiert.«
Als »Chongking Blues« 2010 in Cannes lief, gab Wang der französischen Tageszeitung zu Protokoll, dass für einen Regisseur wie ihn die Wechselfälle des Marktes grausamer seien als die der Zensur. Sein Film würde in China voraussichtlich nur in ein paar Großstädten laufen, dann verschwinden und ein heimisches Publikum nur dank DVD-Piraterie finden. »Mit einem Zensor kann man diskutieren, streiten«, sagte Wang damals, »mit dem Markt nicht.« Im Fall von »Chongking Blues« beanstandete der Zensor nur eine Einstellung, auf die Wang gern verzichtete, um rechtzeitig für den Wettbewerb an der Croisette fertig zu sein.
Das Schicksal von Jia Zhang-kes »A Touch of Sin« widerspricht Wangs Einschätzung flagrant. Jia gehört wie Wang der »Sechsten Generation« an, deren erste Filme ihr Publikum in privaten oder halböffentlichen Vorführungen, etwa an Universitäten, fanden und auf DVD zirkulierten. Seit »The World« von 2004 starten Zias Filme auch offiziell in chinesischen Kinos. »A Touch of Sin« gewann in Cannes 2013 den Drehbuchpreis, was die chinesische Regierung mit Genuggtuung zur Kenntnis nahm. Nicht wenige Beobachter waren damals erstaunt, dass sein Film, der die Verrohung der chinesischen Gesellschaft drastisch vor Augen führt, überhaupt für das Festival eingereicht werden konnte.
Tatsächlich hatte die Zensurbehörde nur punktuelle Einwände gegen das Buch erhoben; bei der Abnahme des fertigen Films bestand sie darauf, einige Gewaltszenen abzumildern. Seit etwa zehn Jahren sei sie gesprächsbereiter und offener geworden, betonte der Regisseur in Cannes. Zu diesem Zeitpunkt sah es noch so aus, als stünde die Gesellschaftskritik seines Films im Einklang mit der Antikorruptionskampagne von Staatspräsident Xi Jinping, die diese als lokales Phänomen betrachtet und bekämpft. Der Kinostart in China war für den 9. November 2013 geplant. Am 24. Oktober jedoch untersagte das Propagandaministerium den Medien jede Berichterstattung über den Film, der in China allerdings nicht einmal einen Alibistart hatte. Er lief zwar in Bosnien-Herzegowina, Island, Litauen, Polen, Südkorea, Taiwan und zahlreichen anderen Ländern, nicht jedoch in Jias Heimat. Nach der DVD-Veröffentlichung in den USA fürchtete der Regisseur, der sich selbst bis dahin Schweigen über die Affäre auferlegt hatte, der chinesische Markt würde von Raubkopien überschwemmt. Er kündigte sogar an, mit seiner eigenen Produktionsfirma für die Verluste geradezustehen, die seinen ausländischen Coproduzenten, darunter Takeshi Kitano, dadurch entstünden.
»Bis dann, mein Sohn« entwickelte sich in China zu einem wahren Kassenschlager. Das Marketing war brillant; der Verleih erschloss dem Film ungeahnte Zuschauersegmente, indem er ihn sogar in Altenheimen vorführte. Wang ist mit dem Markt versöhnt.
Tatsächlich hat er in China seit »Chongqing Blues« spektakuläre Umbrüche erlebt. Seit Beginn des Jahrzehnts arbeitet die Volksrepublik daran, ein noch umsatzstärkerer Markt als die USA zu werden. Zwischen 2011 und 2015 verzeichnete er eine durchschnittliche Zuwachsrate von 40 Prozent. 2016 waren es dann nur noch 3,7 Prozent. Und obwohl die chinesische Wirtschaft insgesamt in unsicheres Fahrwasser zu geraten droht, bleibt das Land für Hollywood vorerst der wichtigste Exportmarkt. Der Anteil Einspiel lag zuletzt bei fast 42 Prozent. Von dieser Expansion profitieren nicht zuletzt dahindümpelnde Franchises wie »Warcraft« und Terminator. Demnächst könnte die Quote für ausländische Filme erhöht werden, die aktuell 34 Filme beträgt (vor ein paar Jahren waren es noch 20).
Die Blüte des heimischen Kinos führte in dieser Zeit zu einer Explosion der Budgets und etablierte ein hochdotiertes Starsystem, das allerdings nur sporadisch internationale Ausstrahlung hat. Die Volksrepublik ist eine Filmgroßmacht mit einem massiven Exportproblem. Die heimischen Blockbuster, vor allem Fantasyfilme und Komödien, funktionieren im Ausland nicht; allenfalls erreichen sie ein expatriiertes chinesischstämmiges Publikum in Übersee. Der Binnenmarkt muss sich selbst genügen. 2016 häuften sich aber auch Zeitungsberichte über gefälschte Bilanzen. Es fanden »Geistervorstellungen« statt, bei denen die Produzenten sämtliche Kinokarten ankauften; Zuschauerzahlen einiger Filme wurden aus strategischen Erwägungen anderen zugeschlagen. Offenbar werden nicht nur negative Kritiken einheimischer Filme zensiert und verschwinden umgehend von den Websites, sondern auch Statistiken über den Kinobesuch.
Gleichzeitig wurden indes Anstrengungen unternommen, die Vertriebsstrukturen unabhängiger Filme zu stärken. Zu diesem Zweck wurde die »National Arthouse Film Alliance« gegründet, bei der sich ein Halbdutzend Gesellschaften um das staatliche Filmarchiv gruppieren. Darunter befinden sich die »Wanda Cinema Line«, die halbstaatliche »Hunxia Film Distribution« und »Fabula«, die Produktionsfirma von Jia Zhangke. Für ihn ist dies eine willkommene Alternative zu den bisherigen Strukturen: »In China werden in jedem Jahr rund 1000 Filme produziert«, sagte er in einem Interview, »von denen aber nur 200 einen regulären Verleih finden. Das liegt weniger an der Zensur, sondern ist eine Frage des Zugangs zum Markt.« Der Regisseur hat in den Bau von vier Kinos investiert, davon zwei in seiner Heimatprovinz Shanxi, eines in der Touristenmetropole Pingyao und ein weiteres in Shanghai.
Seit 2017 hat sich die ökonomische Situation konsolidiert. 2018 wurden in China 9000 Kinos neu eröffnet, im ersten Halbjahr 2019 waren es rund 3500. Zwar ist auch der Umsatz in diesem Zeitraum zurückgegangen, aber das könnte eine konjunkturelle Schwankung sein und muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass die Grenzen des Wachstums erreicht sind. Das chinesische Publikum, das seine Schaulust zuvor weitgehend dank der Filmpiraterie stillen konnte, hat das Kino als Gemeinschaftserlebnis entdeckt. Was für hübsche Blüten der Hunger auf heimische Filme treibt, zeigt der Marketingerfolg von »Long Day's Journey Into Night«. Bi Gans Film startete am 31. Dezember 2018 und wurde mit dem trefflichen Slogan »Begrüße das neue Jahr mit einem Kuss!« beworben. Die Anzahl der Kartenvorbestellungen überstieg die Marken, die »Fast & Furious 8« und »Transformers 5« gesetzt hatten. Ein echter Coup. Aber das Publikum, das sich auf eine sentimentale Komödie freute, musste plötzlich feststellen, dass es in einem Kunstfilm gelandet war, der mit einer nonlinearen Erzählstruktur experimentiert und Erinnerung, Traum und Realität kompliziert miteinander verwebt. Die Überraschung muss so groß gewesen sein, als wären Fans von Doris Day und Rock Hudson unversehens in einen Film von Alain Resnais geraten.
Mit dem neuen ökonomischen Selbstbewusstsein haben sich die Parameter der Zensur verändert. Bis zum März 2018 war die inzwischen aufgelöste »Abteilung für Radio, Fernsehen und Kino« für sie zuständig, nun fällt sie in die Zuständigkeit des Propagandabüros der Kommunistischen Partei Chinas. Beide Entwicklungen gehen nicht unbedingt einher, ihnen ist aber eine zusehends patriotischere Ausrichtung gemein.
Die Zensur hat sich verschärft, wenn ein Film an die Frage der nationalen Identität rührt. Der potenzielle Blockbuster »The Eight Hundred« wurde vom Festival in Shanghai zurückgezogen. Er geriet ins Visier der Zensoren, weil er zwar vom heroischen Kampf gegen die japanischen Invasoren im Zweiten Weltkrieg handelt, die Helden aber den nationalen Streitkräften angehören und nicht den kommunistischen. Das Adjektiv »groß« ist plötzlich verfänglich geworden. Es darf sich nur noch auf die Errungenschaften der Volksrepublik beziehen: Die Komödie »The Great Wish« musste stracks in »The Last Wish« umbenannt werden.
Auch das Prozedere der Zensur hat sich verändert. Die Entscheidung über die Freigabe von Drehbüchern dauert nur noch drei Wochen, die Abnahme des fertigen Films kann sich jedoch über unbestimmte Zeit hinziehen. Sie fungiert noch stärker als Druckmittel auf Filmemacher, denn dadurch ist die Zensurschleuse für Festivalbeteiligungen enger geworden. Wang Xiaoshuai, dessen Film eine einjährige Nachproduktion brauchte, erfuhr erst vier Wochen vor der Berlinale, dass »Bis dann, mein Sohn« zum Wettbewerb zugelassen wurde. Und Lou Ye war völlig überrascht, dass er in diesem Jahr mit »Saturday Fiction« zum zweiten Mal in einem Jahr zu einem Festival (diesmal in Venedig) zugelasssen wurde. Er hat reiche Erfahrungen mit der Zensur gesammelt. Nach »Suzhou River« wurde er mit einem zweijährigen Arbeitsverbot belegt, nach »Summer Palace« mit einem fünfjährigen. »Ich habe den Zensurprozess unzählige Male durchlaufen«, sagte er nach der Einladung auf die Biennale in Venedig, »aber mir ist immer noch nicht klar, wie und warum Zensoren reagieren. Ich weiß es wirklich nicht.«
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