Filmfest Hamburg – Lob der Vielfalt
»In Jackson Hights« (2015)
Neue Programmelemente, ein sehr politischer Fokus und ein paar schöne »Importe« internationaler Festivals machten das Filmfest Hamburg in diesem Jahr zu einer wirklich gelungenen Veranstaltung
»Refugees Welcome«: der nur 75 Sekunden lange, aber sehr dichte Spot (gedreht von dem Hamburger Regisseur Lars Becker), der Flüchtlingen ein Gesicht gibt, lief in Hamburg vor jeder Filmvorführung. Verzichtet wurde in diesem Jahr auch auf die Blumen und Schokolade, die den Filmemachern sonst im Kino überreicht werden; das Geld ging als Spende an Flüchtlingsprojekte. Und natürlich reagierte das Programm auf die Welt jenseits des Kinosaals, mit programmatischen Titeln wie »A Syrian Love Story« oder »Malala – Ihr Recht auf Bildung« und der Einrichtung einer neuen Sektion: »Veto! Der politische Film«.
172 Filme in elf Reihen liefen an zehn Tagen, 28 davon werden in den kommenden Wochen und Monaten einen deutschen Kinostart haben, blieben also immer noch genügend Möglichkeiten für Entdeckungen, jedenfalls wenn man nicht durchgängig bei internationalen Festivals des Jahres, wie Cannes, Locarno oder Venedig, zu Gast gewesen war. Wie das Filmfest München versteht sich auch das Filmfest Hamburg in erster Linie als ein Festival für die Stadt, aber das Programm weist darüber hinaus.
Beeindruckend etwa der neue Film des mittlerweile 85-jährigen Frederick Wiseman: Die Doku »In Jackson Heights« schaut sich in dem gleichnamigen New Yorker Viertel, Teil des Bezirks Queens, um, das zu Beginn von einem Offiziellen als »the most diverse community in the world« charakterisiert wird – hier werden 167 Sprachen gesprochen. Innerhalb dieser Vielfalt konzentriert sich der Film auf einige Gruppen, darunter Menschen in Altenheimen, kleine Ladenbesitzer, die gegen die Verdrängung durch große Ketten protestieren, und Aktivisten für die Rechte von Schwulen, Lesben und Transsexuellen. Keine Minute langweilig war der überlange Film, in dem überwiegend Spanisch gesprochen wird – das Filmfest hat ihn, in Kooperation mit dem Zürich Film Festival, untertiteln lassen. Dass Wiseman in seinem Alter nicht mehr auf Festivaltour geht, ist verständlich; dass von den Machern der weiteren acht Filme in der neuen, dem nordamerikanischen Film gewidmeten Sektion »Transatlantik« die wenigsten anwesend waren, war schade, liegt aber wohl außerhalb des Einflusses des Festivals.
Immerhin hatte man mit Catherine Deneuve zu dem Eröffnungsfilm, Jaco van Dormaels »Das brandneue Testament«, einen Weltstar auf dem roten Teppich. Deneuve wurde mit dem Douglas-Sirk-Preis ausgezeichnet und musste am Tag danach viele Interviews geben. Der Glamourfaktor wird in Hamburg kleiner geschrieben als in München; Albert Wiederspiel, Festivalleiter seit 2003, schreibt das auch der unterkühlten norddeutschen Mentalität zu, die in dieser Hinsicht der Münchner »Bussi-Gesellschaft« diametral entgegengesetzt sei. Die Hamburger lieben es eher hausgemacht: Die am schnellsten ausverkaufte Vorstellung, so Wiederspiel, war die Aufführung des neuen Kiel-Tatorts »Borowski und die Rückkehr des stillen Gastes« in der Fernsehreihe, zu der denn auch zahlreiche Mitwirkende auf der Bühne erschienen.
Eindrucksvoll die beiden rumänischen Filme, Radu Munteans »One Floor Below«, der das Thrillerformat nutzt, um ein Psychogramm seines Protagonisten, der sich um keinen Preis einmischen will, zu zeichnen, und Corneliu Porumboius »The Treasure«, der ebenfalls von gegenseitigem Misstrauen handelt. Eindringlich die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, vor allem in László Nemes' »Son of Saul«, der die Arbeit eines Sonderkommandos in Auschwitz mit größtmöglicher Nähe zu seinem Protagonisten, aber doch mit distanzierender Stilisierung seiner Umgebung einfängt, während Atom Egoyans »Remember« und David Evans' Dokumentarfilm »What Our Fathers Did: A Nazi Legacy« sich mit der Erinnerung an die Gräuel auseinandersetzen.
Der schönste Film in Hamburg war für mich Hong Sang-soos »Right Now, Wrong Then« um einen Filmemacher, der in der Provinz eine junge Frau kennenlernt. Ihre Begegnung wird in zwei Varianten erzählt, allerdings nicht, wie der Titel vermuten lässt, konträr, sondern mit leichten Verschiebungen. Ein wunderbar leichter, berührender Film, in Locarno mit dem Goldenen Leoparden, ausgezeichnet. Aus Locarno kam auch der Abschlussfilm, die iranisch-deutsche Koproduktion »Paradise«, der man ebenso einen deutschen Verleih wünscht wie »Right Now, Wrong Then«.
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