Kritik zu The Invisible Woman
Als Regisseur und Hauptdarsteller haucht Ralph Fiennes dem viktorianischen Kostümdrama um die heimliche Liaison von Charles Dickens und der sehr viel jüngeren Schauspielerin Nelly sehr moderne Gefühle ein
Eine Lehrerin übt mit ihren Schülern ein Dickens-Stück ein, stolz erzählt ihr Mann, dass sie den großen Schriftsteller leibhaftig gekannt habe. Aber doch nur ganz flüchtig, winkt sie ab, da sei sie doch noch ein Kind gewesen . . . Mit dieser Bemerkung öffnet sich eine Tür zu einem anderen Leben, rund zwanzig Jahre früher, als Nelly (Felicity Jones) eine 18-jährige Schauspielerin war, vielleicht nicht sonderlich talentiert, aber mit großem Feingefühl für die Sprache und die menschlichen Irrungen und Wirrungen, von denen sie erzählt. »She is something«, stellt Dickens schon bei der ersten Begegnung fest, als sie mit ihren Schwestern und ihrer Mutter (Kristin Scott Thomas) zu den Proben für eines seiner Stücke dazustößt. In Rückblenden erinnert sie sich an Ereignisse, die für sie spürbar gegenwärtig sind, egal wie entschlossen sie ihnen bei einem Spaziergang am Strand von Margate davonzurennen versucht.
Nach Dominik Graf in Die geliebten Schwestern erzählt nun auch Ralph Fiennes in The Invisible Woman von der heimlichen Liaison eines berühmten Literaten. Nachdem er in seinem Regiedebüt Coriolanus ein Drama von Shakespeare verfilmte, breitet er in seinem zweiten Film basierend auf Claire Tomalins gleichnamiger Biografie einen realen Lebensabschnitt von Charles Dickens aus und übernimmt die vergleichsweise dankbare Aufgabe, den sprühend mitten im Leben stehenden Dichter zu spielen.
Dabei interessieren sich Abi Morgan, die schon in ihren Drehbüchern zu Steve McQueens Shame und der grandiosen BBC-Serie The Hour ein besonderes Gespür für unterschwellige Spannungen bewies, und der Regisseur nicht für den Skandal einer Affäre zwischen einem jungen Mädchen und einem rund 25 Jahre älteren Mann. Stattdessen geht es ihnen um die leisen Mechanismen einer Beziehung, die sich gegen die rigiden viktorianischen Moralvorstellungen behaupten musste. Statt eine hitzige Amour fou zu entfesseln, spüren sie also einer verhaltenen Annäherung nach, die weniger durch physische Leidenschaft befeuert wird, als durch intellektuelle Wertschätzung, eine heimliche Liaison, die erst dreizehn Jahre später mit Dickens’ Tod endete. Statt die verbotene Liebe zu einem verheirateten Mann offen auszuspielen, knistert sie kaum merklich unter den Oberflächen, jegliche Indiskretionen bleiben züchtig jenseits des Bildausschnitts der Fantasie überlassen, so wie es der Literatur des 19. Jahrhunderts entspricht. Trotzdem gelingt es Fiennes mit der Finesse seiner Regie und dem ungekünstelten Spiel unter den erlesenen Bildern eines Kostümdramas aus Viktorianischer Zeit ganz moderne Gefühle hervorzukitzeln. Nebenbei erzählt er dabei auch die Geschichte eines Schriftstellers, der in gewisser Weise ein früher Popstar war und sobald er beim Pferderennen erkannt wurde, aufgeregte Menschenmengen um sich versammelte. Damit klingt in den Indiskretionen der Viktorianischen Zeit ein Echo des modernen Starrummels nach, in dem man seine Privatsphäre entschlossen verteidigen muss.
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