Kritik zu Kleine wahre Lügen
Ein Freundeskreis lässt sich auch von einem Unglücksfall unter ihnen nicht vom geplanten Sommerurlaub am Strand abhalten. Bei Segeltouren, Austernessen und Weintrinken wird die Gruppe dann aber doch immer wieder vom Nachdenken eingeholt. Guillaume Canets Ensemblefilm will den Zeitgeist einer Generation abbilden
»Ich bin stolz, deine Geliebte gewesen zu sein«, sagt Marie (Marion Cotillard) über Ludo (Jean Dujardin), der eine große Lücke in ihrem Leben hinterlassen wird. Ein verblüffender Satz: Üblicherweise ist man stolz auf eine Freundschaft. Eine Liebschaft ist doch eher etwas, das einem widerfährt und das einen nachher mit Wehmut oder Bedauern, schlimmstenfalls Scham erfüllt. Aber gründet sich die Liebe nicht ebenso sehr auf eine Wahl und eine Anstrengung? Als eine eingegangene Verpflichtung, derer man sich später rühmen darf, führt man sie allerdings selten im Mund.
Maries Credo formuliert die Prioritäten dieses Films, in dem Liebe und Freundschaft auch einmal als Widerspruch, ja Verrat empfunden werden. Der überraschende Motorradunfall, den Ludo zu Beginn von Kleine wahre Lügen ereilt, hängt wie ein Damoklesschwert über die südfranzösische Urlaubsidylle, zu der Restaurantbesitzer Max (François Cluzet) wie in jedem Jahr seine Freunde eingeladen hat. Obwohl Ludo im Krankenhaus um sein Leben kämpft, wollte man seine Pläne für den Sommer dann doch nicht aufgeben. Die Zusicherung, im Notfall rasch nach Paris heimzukehren, ist die erste der schon nicht mehr lässlichen Lügen, die den Freundeskreis an eine Zerreißprobe führt.
Das erklärte Vorbild für Guillaume Canets prominent besetzen Ensemblefilm ist Lawrence Kasdans Der grosse Frust, der mit einem ähnlich nostalgischen Soundtrack aufwartete. Eigentlich knüpft er aber an eine junge französische Erzähltradition an, dessen Modell die choralen Filme Claude Sautets darstellen. Vor dessen Vincent, François, Paul und die anderen aus dem Jahr 1973 mussten sich Männerfreundschaften im französischen Kino fast nur im Genre des Kriegs- oder Gangsterfilms bewähren; nun wurden sie zum ersten Mal vor dem Hintergrund der Wohlstandsgesellschaft auf die Probe gestellt. Uneingestandene Rivalität und die Gefahr des Bruchs waren bei Sautet stets eine ernsthaft erwogene dramaturgische Option. Sein Vorbild war folgenreich. Sein Drehbuchautor Jean- Loup Dabadie verlieh in Ein Elefant irrt sich gewaltig und Wir kommen alle in den Himmel (inszeniert von Yves Robert) den Sinnkrisen und Liebesabenteuern eines Männerquartetts slapstickhafte Brisanz. In den drei Strandflitzer-Filmen von Patrice Leconte erlebte das Subgenre seine burleske Apotheose. Marc Esposito belebte es mit seinem Die-Herzen-der-Männer-Zyklus Anfang des Jahrtausends neu; Sautet selbst fügte dem Erzählmodell 1978 mit Eine einfache Geschichte die einzige entschieden feministische Variante hinzu.
Canets Film verrät in jedem Augenblick die Ambition, in seinen Konflikten möge sich eine ganze Generation widerfinden. Während Kasdan jedoch auch von verblassten politischen Idealen erzählte, schreibt sich Kleine wahre Lügen letztlich in die versöhnliche Tendenz dieser bourgeoisen Selbstverständigungen ein. Kleine wahren Lügen erwischt gleich zu Anfang seine Figuren an einem Scheideweg. Seit Ludos Unfall geht ein Riss durch ihre bisherige Existenz. Sie entdecken, wie verwundbar ihre Lebensentwürfe sind. Hier könnte nun ein Zweifel nisten, ob die sozialen Mythen von Ehrgeiz und Sicherheit noch deckungsgleich sind mit den wirklichen Bedürfnissen der arrivierten Charaktere. Doch das existenzielle Schwanken, in dem Canets Freunde gefangen sind, erschöpft sich in Beziehungsproblemen. Ihre einzige Sorge ist die Liebe, die in unterschiedlichen Spielarten durchdekliniert wird: in der banalen (chronische Untreue) ebenso wie in der pathologischen (der Unfähigkeit, das Nein der Geliebten zu akzeptieren); der originellste, beinahe tragische Konflikt entspinnt sich, als ein langjähriger Freund Max eröffnet, dass er sich in ihn verliebt hat.
Der beharrlich verdrängte Schock über Ludos Unfall dient selbstredend als Mahnung, ein authentischeres Leben zu führen. Obwohl Ludo als Leitstern beschworen wird, dem sie alle viel (nur was?) zu verdanken haben, erfüllt er dieses Mandat nur schlecht; die ersten Szenen lassen keinen Zweifel daran, wie besinnungslos er sein gewiss anstrengendes Dasein als Hedonist führte. Etwas hilflos wird der Austernzüchter Jean-Louis (Joël Dupuch) als Gegenbeispiel einer würdevoll bodenständigen Existenz beschworen. Insgeheim jedoch feiert Canet den Lebensstil, den infrage zu stellen er vorgibt. Er setzt schlicht zu berückend in Szene, wie ausnehmend gut man es sich bei Rosé und Meeresfrüchten vor der malerischen Kulisse von Cap Ferrat gehen lassen kann.
Mithin besitzt der Film über zweieinhalb Stunden einen Unterhaltungswert, der nicht gering zu schätzen ist. Dazu verbünden sich in Canets Film die prächtigen Schauwerte mit einer zuverlässigen Dramaturgie. Das vielstimmige Erzählen ist zwar stets eine Wette gegen die Oberflächlichkeit. Die Möglichkeit, umstandslos von einem Handlungsstrang zum nächsten zu schneiden, mag wie eine Entlastung wirken: Es erspart die Vertiefung der Konflikte; Charaktere, die für sich allein womöglich nicht tragfähig wären, scheinen in diesem Kontext hinreichend zu funktionieren. Auch Kleine wahre Lügen bestätigt die Hoffnung, seine Struktur allein sei schon solide und soziologisch aussagekräftig genug, denn es bildet ein Gemeinwesen ab und folgt einem smarten Gestus der Repräsentation. Am Ende vertraut Canets Film auf die heilsame Wirkung der Konfrontation. Seine Figuren werden womöglich wirklich anders aus diesem Urlaub hervorgehen.
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