Die Lebenden, die Liebenden und die Toten
Ihre schwarzen, zum Bienenkorb getürmten Haare sind ein Markenzeichen. Die Skandale ihrer Karriere, von Drogenmissbrauch und ihrem allzu frühen Tod an Alkoholvergiftung mit nur 27 Jahren, haben sich in die Popmusikgeschichte eingeschrieben und fast in Vergessenheit geraten lassen, was Amy Winehouse eigentlich ausmachte: ihre grandiose Stime, ihr enormes Talent als Songwriterin. Asif Kapadia, der mit seinem Dokumentarfilm »Senna« schon mal bewiesen hat, wie man geliebten zu früh Verstorbenen ein Denkmal setzt, ohne zu hagiographisch zu werden, gelingt nun mit »Amy« erneut ein kleines Wunder: Er lässt gleichsam die Tote wiederauferstehen, mit ihrer großartigen Stimme, ihrer quecksilbrigen Persönlichkeit und ihrer großen Verwundbarkeit. Mit dem erschütternden Ergebnis, dass man danach erst recht trauert um die großartige Musikerin.
Der Film besteht fast ausschließlich aus Archivmaterial. Kapadia hat privat gefilmte Aufnahmen, Studio- und Konzertausschnitte mit den bekannten Paparazzi-Bildern kombiniert und zeichnet so, fast ganz ohne die üblichen »talking heads«, ein Porträt der viel zu kurzen Karriere von Amy Winehouse, von den Anfängen der noch pummeligen 16-Jährigen bis zum Niedergang des Weltstars, der unter Alkohol- und Drogeneinfluss bei Konzerten versagt. Kommentare aus dem Off, von Freundinnen, Managern und Musikerkollegen, ergänzen das Bild. Kapadia beschönigt nichts, aber er hält sich zurück, was Anklagen oder Schuldzuweisungen angeht, sei es die verheerende Rolle der Boulevardpresse oder das Versagen der Familie. »Amy« konzentriert sich ganz auf die Person, auf das Ausnahmetalent, die Sängerin, die ihre privatesten Gefühle in Musik umsetzte und sich in ihren Songs wie nackt päsentierte. Man muss kein Fan sein, um das berührend und erschütternd zu finden.
Der Wettbewerb hat unterdessen - nach dem Jubelsturm um »Son of Saul« einen neuen Favoriten: die Patricia-Highsmith-Verfilmung »Carol« von Todd Haynes. Cate Blanchett und Rooney Mara spielen zwei Frauen in den USA der frühen 50er Jahren, die wie magnetisch voneinander angezogen, eine Affäre beginnen. Die eine ist verheiratet mit Kind, die andere ein im Leben noch orientierungsloses Ladenmädchen; eine Chance hätte ihre Liebe allenfalls in größter Heimlichkeit. Haynes inszeniert die Welt der 50er Jahre mit detailverliebtem modischem Glamour, perfekt farblich abgestimmt in allen Kleidern, Tüchern, Hüten, Mänteln. Und stellt damit eine Gesellschaft bloß, in der Zurückhaltung als Absolutheitswert gilt und die Unterdrückung der Gefühle der Alltag ist. Besonders Cate Blanchett spielt ihre Rolle zwischen Beherrschung und Zusammenbruch mit geradezu schneidender Präzision. Die Auszeichnung als weibliche Hauptdarstellerin scheint ihr damit fast gewiss, aber auch Todd Haynes als Regisseur gilt nun als heißer Kandidat auf eine der begehrten Palmen.
Zurückhaltende Reaktionen gab es für Nanni Moreetis neues Werk »Mia Madre«. Darin verkörpert Margherita Buy eine Regisseurin, deren Leben an allen Ecken und Enden aus den Fugen gerät: der Hauptdarsteller ihres Films (John Turturro) ist schwer zu zähmen, ihr Freund will die Trennung nicht akzeptieren, die Tochter schwächelt in der Schule. Doch am schwersten kommt sie damit zurecht, dass ihre Mutter im Krankenhaus liegt und laut Aussage der Ärzte bald sterben wird. »Mia madre« protokolliert mit der für Moretti charakteristischen sanften Ironie und bestechend sachlichem Realismus den schmerzhaften Prozess, den längst erwachsene Kinder durchmachen, wenn sie ihre Eltern gehen lassen müssen – und trifft damit trotz der etwas biederen Inszenierung den Nerv von vielen, die es selbst bereits erlebt haben.
Von Tod und Weiterleben handelte auch der zweite amerikanische Film im Wettbewerb, Gus Van Sants »Sea of Trees«, in dem Matthew McConaughey einen Mann spielt, der nach dem Unfalltod seiner Frau (Naomie Watts) Selbstmord gehen will und dazu eigens nach Japan reißt. Mehr spirituelle Meditation über Schuld und Wiedergutmachung als Drama, konnte Van Sant die Kritik in Cannes nicht richtig überzeugen.
Deren Liebling ist bislang der Überraschungserfolg »The Lobster« des griechischen Regisseurs Yorgos Lanthimos. Lanthimos versetzt darin den Zuschauer in eine Welt, in der ein Zwang zur Verpaarung herrscht. Als David (Colin Farrell mit Bierbauch, Schnauzer und absoluter Höchstform!) verlassen wird, muss er ein Hotel aufsuchen, in der Menschen wie er eine letzte Chance bekommen, jemanden zu finden, der zu ihnen passt. Ansonsten droht ihnen die Verwandlung in ein - selbstgewähltes - Tier. Hervorragend gespielt, mit staubtrockenem Humor, führt »The Lobster« moderne Liebesvorstellungen ad absurdum und offenbart deren unterschwelliges Fundamentalismuspotential. Absolut preisverdächtig.
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