Die Wüste lebt ...
»Razzle Dazzle«
Anke Sterneborg über eine Szene, die alles hat: Fantasten, Realisten und Visionäre
Die gewundenen Äste der Eukalyptusbäume. Das Rot der Wüste mit dem mächtigen Felsen im Zentrum und einer Vegetation, deren Blüten und Blätter nach jedem kleinen Regenguss aus scheinbar totem Holz sprießen. Mitten in dieser bizarren Natur Kreaturen wie das Platypus, eine Art Otter mit Entenschnabel, das Echidna mit seinen langen Stacheln, das scheue Possum, die Beuteltiere, Kängurus und Wombats, die Koalas, die trunken von den ätherischen Ölen in den Eukalyptusbäumen hängen, Dingo-Hunde, die nicht bellen können: Wo schon die wirkliche Welt so wundersame Kreaturen hervorbringt, wuchern auch unter den Kinohelden skurrile Eigenheiten. Aber die eigenwillige Kreativität des australischen Kinos hat auch etwas mit der befreienden Entfernung von Amerika und Europa zu tun; abseits dieser Gravitationsfelder lebt und filmt es sich unbeschwerter und respektloser, in einer lässigen Mischung von universellem Entertainment und spezifischem Lokalkolorit. Das gilt auch noch lange nach den schrill exaltierten Vergnügungen in Strictly Ballroom und Priscilla, Königin der Wüste, nach der erfinderisch heiratswütigen Heldin von Muriels Hochzeit und den eigenbrötlerischen Männern, die in Frauds und Malcolm ihre Wohnungen in Kinderspielplätze verwandelten.
Showbusiness und Alltag, die Burleske und das Leben, Märchen und Realität liegen in den australischen Filmen näher beisammen als anderswo, wenn Darren Ashton in dem Mockumentary Razzle Dazzle die schrille Welt der Kindertanzwettbewerbe auf bös vergnügliche Spitzen treibt. Wenn Wayne Blair vier vor Energie sprühende Aborigine-Mädchen 1968 als The Sapphires zur Belustigung der amerikanischen Truppen in den Vietnamkrieg schickt. Ja sogar wenn jetzt Russell Crowe in seinem Regiedebüt Das Versprechen eines Lebens die seltsame Fähigkeit besitzt, dem Boden mit der Wünschelrute Geheimnisse zu entlocken, nicht nur im australischen Outback auf der Suche nach Wasser, sondern auch auf dem Schlachtfeld von Gallipoli, wo er die sterblichen Überreste seiner gefallenen Söhne im blutgetränkten Boden erspürt. Und es gilt in gewisser Weise auch für den widerwilligen Drogenkurier in The Mule von Tony Mahony und Angus Sampson, in dem sich das kläglich verklemmte Muttersöhnchen Ray ein spätes, abenteuerliches Coming of Age erkämpft. Von seinen Kollegen im Sportverein angestiftet, schluckt Ray auf Bali zusammen mit einem Verstopfungsmittel ein Kilo Heroin in zwanzig Kondompäckchen und verhält sich beim Zoll in Australien so auffällig, dass die Beamten gar nicht anders können, als ihn zu untersuchen. Während 1983 parallel die australischen Segler beim America’s Cup einen Überraschungssieg landen und den Cup nach 132 Jahren zum ersten Mal aus Amerika herausholen, erringt Ray seinen ganz persönlichen Triumph über fiese Polizisten und grollende Gedärme.
Den Widrigkeiten des Lebens begegnen die australischen Kinohelden mit einer subversiven Mischung aus sturer Zähigkeit, schrulligem Eigensinn und hochfliegender Fantasie. Das gilt auch für die achtjährige Mary Dinkle, deren »Augen schmutzigen Pfützen glichen und die auf der Stirn ein kackafarbenes Muttermal hatte« und deren kleptomanische, alkoholsüchtige Mutter sie als Unfall bezeichnet. Von den Klassenkameraden gehänselt und von den Eltern vernachlässigt, schickt Mary in Adam Elliots melancholisch wunderbarer Knetanimation Mary & Max einen Brief in die weite Welt, an eine Adresse, die sie im Postamt im Telefonbuch von New York gefunden hat. So beginnt in den Siebzigern in Mount Waverley, einer Vorstadt von Melbourne, eine ganz besondere Fernbeziehung zwischen einem Mädchen und einem fettleibigen jüdischen New Yorker, der unter Asperger leidet. Die Figuren, die Elliot in liebevoller Kleinstarbeit aus Knete formt, lassen selbst Wallace und Gromit wie Frohnaturen aussehen. Generell gehört Elliots Herz den extremen Außenseitern der bürgerlichen Gesellschaft, Helden mit Obsessionen, Marotten und bizarren Krankheitsbildern.
Das Überleben unter extremen Bedingungen ist ein wiederkehrendes Thema dieser Filme: In Samson and Delilah überträgt Warwick Thornton die biblische Geschichte auf zwei Aborigine-Teenager, die ihrer aussichtlosen Existenz in einer gottverlassenen Outback-Community entfliehen. In Cate Shortlands Lore kämpft sich die Tochter eines Nazioffiziers mit ihren drei kleinen Geschwistern auf einem schwindelerregenden Grat zwischen trotzigem Selbstbewusstsein und aufkeimenden Zweifeln durchs zerstörte Nachkriegsdeutschland, immer zugleich ungebrochen kämpferisch und hilflos verloren. Durch ihre eigenen jüdischen Familienbande, aber auch durch die unrühmliche Kolonialgeschichte ihres Landes, den Genozid an den Aborigines, ist die Regisseurin sensibilisiert für die deutsche Geschichte. Schon in ihrem ersten Spielfilm Somersault spürte sie den Ausschlägen virulenter Teenagergefühle nach: In den kühlen Snowy Mountains ließ sich die von Abbie Cornish gespielte Heidi zwischen Schwerelosigkeit und Schwermut durchs Leben treiben, eine jugendliche Ausreißerin, die sich im verschneiten Örtchen Jindabyne in eine ungewisse Zukunft stürzt und auf fahrlässige Weise verschwenderisch mit ihrem Körper umgeht. Auch in Candy von Neil Armfield geht es um die explosive, selbstzerstörerische Lebenserfahrung der Jugend. Die Geschichte eines »love triangle between a hero, a heroine and heroin« ist ein irrwitzig vibrierender Tanz am Abgrund, eine schwindelerregende Fahrt auf dem Karussell von Liebe, Leidenschaft und Sex, von Drogen und Beschaffungskriminalität mit Heath Ledger und, wieder, Abbie Cornish.
Das Jindabyne aus Somersault ist auch der Schauplatz des dritten Films von Ray Lawrence. Der Mord an einem Aboriginemädchen ist da nur der Aufhänger für die Entfaltung eines komplexen Beziehungsgeflechts: Es geht um die Erschütterungen, die der Leichenfund in der kleinen Gemeinde und den betroffenen Familien auslöst. Dass hier drei Männer in aller Seelenruhe die Fische aus dem Wasser angeln, in dem eine Leiche treibt, weil sie sich ihren Angeltrip nicht verderben lassen wollen, gehört zu den seltsamen Verhaltensweisen australischer Kinohelden.
Eine Weile war es schlecht bestellt ums australische Kino. Auf die große Zeit, in der Regisseure wie Fred Schepisi, Peter Weir, Phillip Noyce, Jane Campion oder Baz Luhrmann Hollywood das Fürchten lehrten, folgte eine Baisse; gerade aber formiert sich der australische Film mit frischen Kräften neu. Eine Fülle von Talenten etabliert einen harschen Realismus, dessen düsterer Tonfall das gleißende Licht der australischen Sonne konterkariert. In John Hillcoats brachial kraftvollem Western The Proposition mischt sich ein archaisches Peckinpah-Feeling mit der morbid modernen Balladenmelancholie von Nick Cave. In abgründigen Horrorfilmen wie James Wans Saw oder Greg McLeans Wolf Creek wird die grenzenlose und unschuldige Weite der australischen Landschaft fürchterlich eng. Wenn zwei Engländerinnen und ein junger Australier zum Meteoritenkrater Wolf Creek reisen und geifernde Rednecks den Mädchen bei einer Rast im Diner rüde Avancen machen, spürt man das Nachlassen der Zivilisationskräfte. Der schrullige Alte, der nachts zu Hilfe kommt, ist freilich sehr viel gefährlicher, als es scheint, düster intoniert von John Jarratt, der schon in Picknick am Valentinstag, einer anderen Geschichte vom mysteriösen Verschwinden in Australien, eine kleine Rolle hatte. Überhaupt gehen junge Leute in diesem Land leicht verloren, so wie die echten Rucksacktouristen in Coober Pedy und demnächst die Kinder in Kim Farrants Strangerland mit Nicole Kidman und Hugo Weaving.
Zur neuen Welle australischer Regisseure gehört neben Justin Kurzel mit seinem True-Crime-Thriller Die Morde von Snowtown und Jocelyn Moorhouse mit ihrer Rachesatire The Dressmaker auch David Michôd. Sein Spielfilmdebüt Animal Kingdom (Königreich des Verbrechens) destillierte er aus den Randbezirken von Melbourne: die Geschichte einer kleinkriminellen Familie, die sich in einem Strudel aus Drogen, Raubüberfällen und sinnloser Gewalt in einem selbstzerstörerischen Trip aufzehrt. Wenn in der ersten Szene die Mutter im Beisein ihres siebzehnjährigen Jungen an einer Überdosis stirbt, ist der ernüchternde Tonfall gesetzt. Der Junge kommt zur Großmutter, gespielt von Jacki Weaver. Hinter liebenswerten Sweetheart-Floskeln lädt sie ihr matriarchalisches Familienoberhaupt mit vergifteter Freundlichkeit auf: »We do what we must. Just because we don’t want to do something doesn’t mean it can’t be done...«, sagt sie, während sie einen Mord in der Familie in Auftrag gibt. In seinem neuen Film The Rover macht sich Michôd seinen eigenen Reim auf die dystopischen Mad Max-Visionen. Zehn Jahre nach dem ökologischen Zusammenbruch spielt Guy Pearce einen sehnig verhärteten Überlebenden, der rücksichtlos um sein Auto kämpft, das ihm eine Bande marodierender Männer, die einen übel gelaufenen Raubüberfall hinter sich und ein dubioses Geschäft vor sich hat, entwendet. Was mag nur in dem Auto sein, das diesen enormen Blutzoll rechtfertigt? Am Ende stellt sich heraus, dass er nur einen Rest von Menschlichkeit verteidigt hat, auch das eine der vielen bizarren Eigenheiten australischer Helden.
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