Legendäre Tränen
Beinahe wäre er aus den falschen Gründen in die Filmgeschichte eingegangen. Lange Zeit war er vor allem bekannt dafür, Gegenstand eines berühmten Experiments zu sein. Lew Kuleshow montierte eine Großaufnahme, in der sein Gesicht keinen Ausdruck erkennen ließ, hinter die Einstellungen eines Suppentellers, eines Sargs und eines Kindes. Das nichtsahnende Publikum brach in Entzücken aus über die Kunst Ivan Mosjukins, Hunger, Trauer und väterliche Fürsorge auszudrücken.
Das war zur Hälfte ein Missverständnis. Zwar besaß Mosjukin eines jener Gesichter, auf dem sich Regungen in kleinsten Nuancen, und nur der Kamera, offenbaren können. Und natürlich konnte sein Ausdruck vieldeutig sein. Er besaß Leinwandpräsenz, auch wenn seine Gesichtszüge keine Regung verrieten, Dennoch hatte Kuleshow mit ihm das falscheste Beispiel gewählt. Denn sein Experiment lässt nichts erahnen von dem Glühen und der Heftigkeit dieses Schauspielers, der ein Verführer im Namen seiner Figuren war und bisweilen hemmungslos mit der Kamera liebäugelte. Seine hellen, klaren Augen konnten starr und beunruhigend blicken, konnten den Zuschauer und ihr Gegenüber hypnotisieren. Seine Augenbrauen erhoben sich darüber wie Flügel, die auch eigene Akzente setzten. Das Lächeln, das seine schmalen Lippen umspielte, blieb unergründlich. Sein entschlossen habichthaftes Profil reizte ihn zur Maskierung, zum Versteckspiel.
Im Berliner Arsenal kann man sich in den ersten zehn Märztagen der Faszination dieses noblen Kinoprofils anvertrauen. Die Reihe "Ivan Mosjoukine Superstar" zeigt ihn in sieben seiner besten Rollen. Sie gehören zwei Kinoepochen an, für die ich eine besondere Vorliebe hege: das vorrevolutionäre russische Kino und das französische Kino der 1920er, das maßgeblich von weißrussischen Emigranten geprägt wurde. Innerhalb weniger Jahre fand Mosjukin zu einem genuin filmischen Darstellungsstil. 1911 debütierte er im Kino und avancierte rasch zu einem seiner größten Stars. Sobald er die anfängliche Überdeutlichkeit seiner Gesten überwunden hatte, fand er zu einer Verinnerlichung und Subtilität des Ausdrucks, die ihn das Spektrum der Ausdrucksmöglichkeiten weiter abmessen ließ als jeden anderen Schauspieler seiner Generation. Er verstand sich auf das Handwerk der Stummfilmtragödie, das mimische Bewahren schmerzvoller Erinnerungen. Sein Körperspiel konnte von Stolz, Erregung und Enttäuschung sprechen. Athletisch war es ebenfalls. Mit Buster Keaton verband ihn die Begeisterung für Tempo und Mechanik der Moderne, nonchalant absolvierte er Slapstickeinlagen; Ton- und Stimmungswechsel absolvierte ere geschmeidig. Bei aller Robustheit besaß sein Spiel noch eine andere, ebenso verführerische Qualität: Die Mosjukin-Tränen sollten legendär werden.
Sein Faible für überreizte, dandyhafte mitunter auch dämonische Figuren (beispielsweise in Jakow Protazanows Pique Dame) machte ihn zum idealen Protagonisten der Salon- und Gesellschaftsmelos des zaristischen Kinos, in dem bereits Untergangsstimmung zu spüren ist. Die Verführungen der Leichtlebigkeit und ihre tragischen Konsequenzen waren sein ureigenes Terrain. Eine weitere Zusammenarbeit mit Protasanow aus dieser Zeit ist zu sehen, die Adaption der Tolstoi-Novelle über eine vergebliche Weltflucht "Vater Sergius", in der sich auch dessen Kompositionsprinzip zeigt, die Kraftlinien an den Bildrand zu verlegen und so die Leinwand zu einem Spannungsfeld werden zu lassen.
Bereits Mitte November, im Eintrag "Zeitenwende", habe ich kurz über Mosjukin geschrieben, anlässlich einer Filmreihe über russische Emigranten in Deutschland und Frankreich. Im Arsenal läuft endlich auch ein Film, den ich in der damals im Zeughaus gezeigten Reihe schmerzlich vermisste, L'angoissante Aventure, der gewissermaßen nebenbei auf der Flucht entstand.
Der russische Melo-Stil war zu mystisch, zu morbid für das französische Publikum. Mosjukin wurde jedoch bald auch dort zu einem der größten Stars. Sein Spiel wurde leichtfüßiger. Er brillierte in romantisch-exotischen Abenteuerfilmen und Charakterdramen, oft als Partner seiner Entdeckerin und Ehefrau Natalia Lissenko. Meist war er als Autor an seinen Filmen beteiligt. Das Arsenal zeigt auch seine ersten Regiearbeiten. An L'enfant du Carnaval von 1921 erinnere ich mich nicht mehr genau, aber der zwei Jahre später entstandene Le Brasier Ardent ist ein wagemutig-bizarrer Filmessay, halb Detektivkomödie, halb psychoanalytisches Traumspiel. Noch mehr bewundere ich freilich die Pirandello-Verfilmung Feu Mathias Pascal, in der er unter der Regie von Marcel L'Herbier spielt. Da zeigt Mosjukin so viele Facetten, dass er fast zu einer Summe seines Könnens wird.
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