Des Kaisers neue Kleider
Bis zum Ausbruch der Digitalen Revolution stand ich in dem Glauben, Artefakte seien von Menschenhand hergestellte Gegenstände. Diese Ansicht teilte wohl auch ein Großteil der Archäologen. Also fand ich es zunächst wunderlich, dass Bildstörungen auf DVDs ebenfalls so genannt werden. Derlei sich selbstständig machende Pixel sind Ihnen gewiss von alten Silberscheiben oder zu häufig wiederholten TV-Serien bekannt. Eine kurze Internetrecherche ergibt, dass der Begriff noch in ganz anderen Bereichen Verwendung findet: In der Forensik etwa bezeichnet er eine unwissentlich am Tatort hinterlassene Spur, in der Soziologie ein Scheinphänomen.
Bei der Pressevorführung von Terrence Malicks "Knight of Cups" im Berlinale-Wettbewerb geschah in der letzten Woche etwas, das womöglich allen drei Bedeutungssphären zugeordnet werden kann. In der zweiten Hälfte des Film häufte sich das Auftreten von Artefakten, vor allem in der rechten, unteren Bildhälfte. Einigen Kollegen waren sie ebenfalls aufgefallen, anderen nicht. Werden die DCP genannten Datenträger mit Wettbewerbsbeiträgen vorher gar nicht mehr geprüft? Bei der Premiere traten die Bildstörungen angeblich nicht mehr auf. Schreitet der Fortschritt jetzt bereits so schnell voran, dass der Verfall von Dateien schon vor der Premiere eines Films einsetzt?
Dieser Fall von plötzlichem Kindstod bestärkt meinen Argwohn, dass die Digitale Revolution womöglich das Filmerbe fressen wird. Die Digitalisierung ist nach Meinung vieler Fachleute ein ungedeckter Scheck auf die Zukunft. Die Haltbarkeit von unter Idealbedingungen gelagerten Filmkopien ist nach aktuellem Stand unendlich verlässlicher als die einer DCP, von der man nicht weiß, ob sie nach ein paar Jahren noch lesbar sein wird.
Dieses Problem stand wie der im Englischen sprichwörtliche Elefant im Raum, als in der letzten Woche im Berliner Filmmuseum über die Zukunft der Digitalisierung des Filmerbes diskutiert wurde: als eine offenkundige Wahrheit, die man geflissentlich verschweigt. Nicht einmal Karl Griep, der im Publikum sitzende Leiter des Filmarchivs beim Bundesarchiv, den ich aus früheren Diskussionen als besonnenen Fürsprecher der analogen Filmkopie erinnere, sprach nicht mehr von der Konservierung. Vielmehr akzeptierte er die DCP "als zunächst einmal archivfähiges Material", das indes bald von der DCDM (musste ich auch erst mal nachschlagen: Digital Cinema Initiative Distribution Master) abgelöst werden könnte, welche den Vorteil hat, dass auf ihr die Daten nicht komprimiert werden. Die Zukunft des Erbes, so scheint es, wird zu einer Frage der Dekodierbarkeit, denn es kommen immer neue Formate hinzu. Da stehen wohl babylonische Verhältnisse ins Haus.
Die Debatte fand allerdings weniger auf einer technischen und erst recht nicht nicht auf einer ideologischen (also für und wider die Digitalisierung), sondern einer bürokratischen Ebene statt. Die Vertreter dreier Institutionen – Claudia Dillmann vom Deutschen Filminstitut, Rainer Rother von der Deutschen Kinemathek und Ralf Schenk von der DEFA-Stiftung – erläuterten, wie sie die Digitalisierung ihrer Bestände vorantreiben. Dabei ging es um Prioritätenlisten und die Verwendung von Fördergeldern. Es war keine staubtrockene Diskussion, denn eine im letzten Jahr von Helmut Herbst und Klaus Kreimeier lancierte Petition brachte die Institutionen in Rechtfertigungsdruck: Sie würden sich zu defensiv und abwartend verhalten. Es galt, den Verdacht, es würde nur das "Premium-Erbe" digitalisiert, auszuräumen. Um die Vielfalt abzubilden und nicht nur allzu Bekanntes wie "Metropolis" zeigen zu können, hat Rainer Rother ein Drei-Säulen-Modell entwickelt, von denen ich aber leider nur noch zwei in meinen Notizen wiederfinde: die restauratorischen und kuratorischen Kriterien. Auf die Frage, was zuerst digitalisiert werden müsse, hatte er eine klare Antwort: was anderswo nicht mehr existiert. Das Erbe ist in akuter Gefahr (und war es eigentlich immer), aber niemand auf dem Podium mochte in Alarmismus verfallen.
Seit die Kinos kaum noch über Filmprojektoren verfügen, ist die DCP das Trägermedium der Wahl, um alte Filme zugänglich zu machen. Das ist für die DEFA-Stiftung überlebenswichtig, die weitgehend von der Auswertung ihres Filmbestands zehrt. Offenbar verdient sie mit "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel" und anderen Märchenfilmen einen Haufen Geld, der umgemünzt werden kann in beispielsweise die Digitalisierung der Dokumentarfilme von Jürgen Böttcher, von Animationsfilmen der Dresdener Schule und von den Regalfilmen aus den 60ern. Bei der Deutschen Kinemathek steht traditionell das Erbe von Filmemigranten auf der Liste, aber auch das Werk des Dokumentaristen Peter Nestler, die Filme von Werner Hochbaum, G.W. Papst und Helma Sanders-Brahms. Das Deutsche Filminstitut orientiert sich nicht zuletzt am internationalen Forschungsinteresse. Das gilt momentan u.a. den so genannten Ton-Bildern aus der Frühzeit des Kinos.
Die Kosten einer Digitalisierung liegen im Schnitt zwischen 20000 und 40000 Euro pro Film. Edgar Reitz braucht demnächst für seinen "Heimat"-Zyklus angeblich eine ganze Million. Während in Frankreich vor einigen Jahren beim so genannten plan numérique die Digitalisierung mit einer richtig großen Kelle betrieben wurde, ist den deutschen Archiven eher die Verstetigung von Geldsummen wichtig als das rasche Verbrennen von Fördermitteln. Immer häufiger werden diese übrigens auch von den Ländern bereitgestellt und nicht mehr nur vom Bund. Während das Filmerbe der DEFA-Produktion relativ klar geordnet ist, gab es in der ehemaligen BRD eine Zersplitterung der Produktionslandschaft, die heute zu einer unüberschaubaren Gemengelage bei Rechte- und Materialfragen führt.
Zum Schluss will ich rasch einige der zentralen Erkenntnisse, die ich aus der Diskussion gewonnen habe, zusammenstellen. In den technischen Betrieben muss Nachwuchs entstehen, damit der Umgang mit Filmmaterial nicht zu einem vergessenen Handwerk wird. Wer bei der Filmförderung FFA um Mittel für seinen Film ersucht, kann auch eine Summe für dessen Erhaltung einpreisen, allerdings nicht mit einem Betrag für Langzeitsicherung kalkulieren. Der eindrücklichste Moment des Abends stand ganz an seinem Anfang: Da lief ein kurzer Film der Wim-Wenders-Stiftung über die digitale Restaurierung seiner frühen Filme. Die erhaltene Kopie von "Alice in den Städten" war eine Ruine, deren Anblick jedem Betrachter das Herz zerreißen muss. Wie ihr mit Hilfe digitaler Technik ihre alte Schönheit zurückerstattet wurde, grenzt an ein Wunder.
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