Kritik zu St. Vincent
Bill Murray als unwahrscheinlicher Heiliger, der einem kleinen Jungen wichtige Lebenslektionen in schlechtem Benehmen erteilt
Die erste Szene ist ein kleiner Schock. So hat man Bill Murray noch nie gesehen. Alt und ungepflegt, unrasiert, mit wirrem, grauem Haar und einer Zigarette in der Hand erzählt er vom Tresenstuhl einer Bar aus einen Witz. Die Stimme verrät, dass er angetrunken ist, und mehr noch: sie klingt unfreundlich, kratzend, schlecht gelaunt. Und das tut ungeheuer gut. Eigentlich hat man Bill Murray nämlich schon lange mal wieder so sehen wollen: nicht als den putzigen Onkel, zu dem ihn Wes Anderson in seinen Filmen stilisierte, sondern als jemand, dem man eine echte Depression, eine echte Alkoholsucht, ein echtes Down-and-out-Sein abnimmt.
Und das ist dieser Vincent, den Murray hier spielt: heruntergekommen und am Ende seines Glücks. Vincent ist ein alleinlebender Vietnamveteran, ein Trinker und Spieler, der rundherum nur Schulden und keine Freunde hat. Wenn nicht als Glücksfall, so doch als gute Gelegenheit erscheint ihm deshalb, dass Umzugsfahrer seinen Baum im Vorgarten beschädigen. Er hängt ihnen gleich noch den zuvor selbst umgefahrenen Gartenzaun an und einigt sich mit der frisch einziehenden Nachbarin (Melissa McCarthy). Ein ähnlicher »Glücksfall« ereignet sich am nächsten Tag, als der kleine Sohn der Nachbarin, Oliver (Jaeden Lieberher), bei ihm Unterschlupf sucht, nachdem ihm als Neuling in der Schule der Hausschlüssel geklaut wurde. Olivers Mutter, frisch geschieden, kann den neuen Arbeitsplatz nicht verlassen und Vincent hat keine Skrupel, sich die »Babysitting«-Stunden bezahlen zu lassen. Obwohl er nichts mit Kindern anfangen kann, bietet er seine Dienste auch weiter an. Olivers Mutter weiß keine andere Lösung, als seinen Vorschlag anzunehmen.
Was folgt, hat man im Kern schon Dutzende Male gesehen: Aus Vincent, dem verlotterten Misanthropen, und Oliver, dem klugen Kind, wird ein bestechend charmantes, ausnehmend gut funktionierendes Paar. Gerade, weil er als Vorbild und Pädagoge so gänzlich ungeeignet ist, gelingt es Vincent, dem kleinen Oliver wichtige Lebenserfahrungen zu vermitteln. Und gerade, weil er ein so kluger, aber unerfahrener Junge ist, sieht Oliver in Vincent Qualitäten, die dieser lieber verborgen hält. So abgenutzt diese Geschichte ist, so viel Vergnügen bereitet sie in der Ausführung von Murray und Lieberher. Selten wurde die These, dass Kindern eine Lektion in schlechtem Benehmen oft besonders guttut, überzeugender vorgetragen. Sei es, dass Vincent Oliver zeigt, wie man anderen eins auf die Nase gibt, oder ihn im Wetten auf der Pferderennbahn unterweist – einen besseren Weg, um zu lernen, Chancen zu nutzen, die man nicht hat, oder wie es ist, auch mal alles zu verlieren, kann man sich am Ende als Zuschauer kaum vorstellen.
So verzeiht man dem Film letztlich sein sentimental-seifiges Ende und sein sträflich unterbeschäftigtes Topensemble (Naomi Watts als russisches Callgirl, Chris O’Dowd als progressiver, katholischer Lehrer, Terrence Howard als sanfter Kredithai), weil man eben Bill Murray stundenlang zuschauen kann, auch wenn er nur rauchend Topfpflanzen bewässert.
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