Die Umwidmung der Wahrheit

In Jean-Claude Grumbergs Jugendmärchen „Das kostbarste aller Güter“, dessen Verfilmung seit gestern in unseren Kinos läuft, findet eine merkwürdige Verdinglichung statt. Das Merkwürdigste an ihr ist, wie sehr sie zu Herzen geht.

Der Autor nimmt auf seine eigentümliche Weise die Versachlichung beim Wort, mit der die Nationalsozialisten die Barbarei ihrer Vernichtungsmaschinerie verschleierten. Das fängt mit dem Titel an, denn im Original ist von „marchandises“die Rede, von Waren. Der deutsche Begriff ist umfassender, Güter bezeichnen eben nicht nur Materielles. Man kann zum Beispiel kaum umhin, von dem Findelkind an der Bahntrasse als einem „kleinen Bündel“ zu sprechen - das ist Thomas Abeltshauser in seiner Kritik für das Märzheft ebenso ergangen wie mir an anderer Stelle. Das kostbare Gut verrät den Geist der Vorlage jedenfalls nicht, denn es entspricht ebenfalls Grumbergs Strategie einer sprachlichen Umwidmung der Wirklichkeit. Diese wird umso kenntlicher, wenn sie die Verhältnisse bei anderem Namen nennt. Man begreift augenblicklich, wer mit den „Herzlosen“ gemeint ist. Grumberg zieht die Menschheit in seiner Fabel zärtlich zur Rechenschaft.

Michel Hazanavicius' Verfilmung schreibt diese Strategie fort, in dem sie der Fabel nun die Gestalt der Animation gibt. Sie nimmt die Gräuel der Shoah mit vorgeblicher Naivität in den Blick. Diese hat den Vorzug, die Geschehnisse als existenzielles Geschehen erfahrbar zu machen. Der arme Holzfäller und die arme Holzfällerin brauchen keine Namen, ebenso wenig wie das Neugeborene, das sie in ihre Obhut nehmen, oder der Einsiedler in den Wäldern, der im Verlauf der Handlung gewissermaßen zum dritten Vater des Findelkindes wird. Die Geschichte wirft sie alle auf ihren grundlegenden Stand und ihre Würde zurück. Ihre Menschlichkeit spiegelt sich im kreatürlichen Einverständnis, das sich unmittelbar zwischen dem kleinen Mädchen und ihren Spielkameraden entwickelt, zuerst mit dem Hund des Holzfällerpaares, sodann mit der Ziege des Eremiten. Der Mann mit dem entsetzlich kriegsversehrten Gesicht ist übrigens eine Schlüsselfigur im moralischen Gerüst des Films, denn anfangs besteht sie auf einem Tauschgeschäft – ein tägliches Holzbündel für die Milch der Ziege -, lernt aber bald, dass das Leben auch einen Lohn bereithalten kann, der keinen vorherigen Handel braucht.

Der Film selbst ist ein unerwartetes Geschenk. Ich empfehle, ihn wenn möglich im Original zu sehen. Die deutsche Synchronfassung ist sehr gut, aber die französischen Stimmen verleihen ihm ein einnehmendes Timbre: Dominique Blanc und Grégory Gadebois (ursprünglich war Depardieu vorgesehen, zu dem Hazanavicius pünktlich auf Abstand ging) als Holzfällerpaar, Denis Podalydès als Einsiedler und schließlich Jean-Louis Trintignant, der den wachsam märchenhaften Erzählkommentar noch vor seinem Tod einsprechen konnte.

„Das kostbarste aller Güter“ setzt sich souverän über das Lanzmannsche Dogma hinweg, der Shoah dürfe man nur dokumentarisch nähern. Er tut es nicht leichtfertig; Grumberg hat als Bühnen-, Buch- und Drehbuchautor unaufhörlich mit diesem Bilderverbot gerungen. Shoah, die deutsche Besatzung und Antisemitismus sind ein Lebensthema für ihn. Sein Vater wurde im Lager Drancy interniert, nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Erstmals fiel mir sein Name 1983 im Vorspann von „Die letzte Metro“ auf, den er zusammen mit Francois Truffaut und Suzanne Schiffman schrieb. Später wies mich der Schauspieler Francois Berléand auf „Les milles – Gefangen im Lager“ (1995), den er als seinen Lieblingsfilm bezeichnete. Er falle immer durch die Raster der cinéphilen Aufmerksamkeit, klagte Berléand, weil Sébastien Grall nicht hoch gehandelt würde an der Börse des Autorenfilms – aber auf den Regisseur käme es eben nicht immer an, wenn das Drehbuch gut sei. Ich entdeckte „Les milles“ kurz darauf im Programm eines Privatsenders und stellte fest, dass er tatsächlich ganz außerordentlich ist (schon allein die Besetzung: Philippe Noiret, Jean-Pierre Marielle, Kristin Scott-Thomas, eben Berléand und Rüdiger Vogler als Lion Feuchtwanger), einer der wenigen Filme, die einen Eindruck vom Alltag in einem Internierungslager vermitteln.

Beim Sehen von „Das kostbarste aller Güter“ musste ich aber vor allem an Grumbergs Adaption von Hochhuth „Der Stellvertreter“ denken, die er für Costa-Gavras schrieb.Beide Filme haben ein Leitmotiv gemeinsam: die Deportationszüge. Ihre bloße Regelmäßigkeit ist beklemmend. Die Vernichtungsmaschinerie läuft zuverlässig, ohne Unterlass. Über die Rolle, die sie in seinem Film spielen, waren Costa-Gavras und ich übrigens unterschiedlicher Ansicht. Er fand, man müsse dem Publikum immer wieder zeigen, dass der Völkermord weitergeht. Ich entgegnete, man solle dessen Intelligenz nicht unterschätzen. Für mich gaben die Zwischenschnitte auf die Deportationszüge dem Film einen unerbittlichen Rhythmus. Grumberg und Hazanivicius unterschätzen das Publikum nicht, und auch bei ihnen ist der Rhythmus eine Frage erzählerischer Moral.

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