Kritik zu Flow

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2024
Original-Titel: 
Flow
Filmstart in Deutschland: 
06.03.2025
L: 
84 Min
FSK: 
6

Der Film des lettischen Regisseurs Gints Zilbalodis erzählt von einer wunderschönen, vom Untergang bedrohten Welt. Stars sind eine tapfere Katze, das Wasser – und eine außergewöhnliche, poetische Animation

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Am Anfang steht das Staunen. Das Staunen in den großen Augen der Hauptfigur. Sie betrachtet die Welt, bahnt sich ihren Weg durch eine beeindruckend grüne Natur, sieht sich selbst in überlebensgroßen Holzskulpturen, die vor und in einem leerstehenden Haus, einer Art Atelier, Katzen in verschiedenen Positionen abbilden. Wird hier einem Tierkult gehuldigt? Und warum ist das Haus verlassen, keine Menschenseele präsent? Diese Fragen erledigen sich von selbst, als die scheinbare Naturidylle zu beben beginnt. Eine Wasserflut bricht sich Bahn, die Tiere des Waldes beginnen zu fliehen, die Katze flieht – vor einem sie verfolgenden Hunderudel und vor dem Wasser. Das Wasser steigt und überschwemmt alles. 

Kurz vor dem Ertrinken rettet sich Flow, die Katze, auf ein vorüberfahrendes Segelboot, gesteuert von einem Wasserschwein, einem gelassenen Capybara. »Flow« – vielleicht heißt der Film nach der Hauptfigur, vielleicht benennt der Titel das Hauptelement des Films, das fließende Wasser, vielleicht den mentalen Zustand aller Protagonisten, die sich verändern lassen, oder den Zustand des beständigen Staunens, der sich beim Sehen dieses Animationskunstwerks einstellt. 

Das Abenteuer beginnt. Es beginnt zugleich das Abenteuer eines Films, der sich auf die Kraft der animierten Bilder verlässt und ohne ein einziges gesprochenes Wort oder Rückblenden eine klassische Heldenreise präsentiert. Flow und die bald auf fünf Überlebende angewachsene Schiffscrew mit einem tapsigen Labrador, einem diebischen Lemuren und einem majestätischen Sekretärvogel verbindet auf den ersten Blick nichts. Das ungleiche Team wächst im Laufe des Films zusammen, lernt sich gegenseitig kennen und schafft so die Voraussetzungen, um zu überleben. 

Der lettische Regisseur Gints Zilbalodis (*1994) vergleicht in verschiedenen Interviews seinen Weg mit dem Film, an dem er und ein kleines Team aus ganze Europa über fünf Jahre gearbeitet haben, mit der Entwicklung der Hauptfigur: ein Alleingänger, der versteht, die eigenen Ängste langsam zu überwinden und die Kraft von Gemeinschaft zu schätzen. 

Der Mut des Regisseurs ist nicht zu überschätzen. Er entwickelt eine ganz eigene Handschrift in der Animation und im Storytelling, Figuren wie mit Wasserfarben gemalt, genau beobachtet und mit einer höchst lebendigen 3D-Kamera »gefilmt«, die ebenso rasche Bewegungen ermöglicht wie lange ruhige Sequenzen mit einer Szenerie teilweise dokumentarisch wirkender, Ehrfurcht gebietender Naturaufnahmen. 

Ein wenig wirkt »Flow« wie ein europäischer David gegenüber dem Goliath von Animationsfilmstudios wie Disney und Pixar, doch geht es dem Regisseur nicht um Abgrenzung, davon zeugen seine vielfachen Auszeichnungen sowohl in Europa als auch den USA, bei den Golden Globes und dem Oscar. Zilbalodis schafft eine eigene Animationssprache mit der Anmutung von Fantasyklassikern wie »Herr der Ringe« beim Durchsegeln bedrohlicher Felsblöcke oder von älteren Computerspielen bei der Darstellung gefluteter Ruinen von Heiligtümern zwischen Kathedralen und Tempeln als Fusion von Ost und West, untermalt von sparsam eingesetzter Filmmusik und Tierlauten. Geschickt nimmt er archetypische und biblische Motive auf: die Irrfahrt bei einer Sintflut und die Suche nach einem rettenden Land mit Anklängen an Noah und Odysseus. Dabei entsteht keine Dystopie, sondern in poetischen Bildern die Überlebensfabel einer trotz aller Zerstörung wunderschönen Welt. Eindrucksvoll sind die Lichtspielereien, die Wasserreflexionen, die Navigation durch die Kanäle einer verlassenen Stadt – die an die architektonische Meisterschaft Venedigs erinnert und in der plötzlich eine Art Ur-Wal wie der biblische Leviathan das Wasser durchpflügt – oder die Besteigung eines hohen Berges durch Flow und einen Mitstreiter, bei der eine Art mystische Entrückung geschieht. 

»Flow« funktioniert als kindgerechter Film über die Kraft von Freundschaft und Solidarität, gerade angesichts bedrohlicher Situationen. Zugleich ist »Flow«, ohne belehrend zu wirken, ein erwachsenes filmisches Plädoyer für die Schönheit, den Wert und die Würde alles Lebendigen und eine Warnung vor der Verletzlichkeit und möglicher menschengemachter Vernichtung der natürlichen Grundlagen. Es wird kein Zufall sein, dass neben vertrauten Haustieren wie Hund und Katze die Hälfte der Crew auf der Liste der gefährdeten oder sogar vom Aussterben bedrohten Tiere zu finden ist. 

»Flow« reiht sich damit ein in die überraschende Vielfalt von Filmen, die in den letzten Jahren Tiere in den Mittelpunkt stellten. Der Film hatte 2024 in Cannes Premiere und wurde für die Art und Weise gelobt, Tiere visuell und narrativ nicht zu vermenschlichen und zu objektivieren, sondern sie in ihrer Tierlichkeit als Subjekte gelten zu lassen. 2022 wurde mit »EO« von Jerzy Skolimowski der Passionsweg eines Esels als Roadmovie ins Bild gesetzt, 2023 mit »Animalia« von Thomas Cailley in einem romantischen Thriller die Grenze zwischen Tier und Mensch verschoben. Weitere Beispiele eines möglichen animal turn im Film wären zu nennen, die eigene Zugänge zu einer postanthropozentrischen Sichtweise ausloten. 

Am Ende bleiben in »Flow« die großen Augen der Katze und ihrer Freunde, die weiter staunen und uns auf den Ausblick in eine lebenswerte Zukunft hoffen lassen. 

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