Politische Sprengkraft
Momentan sind aus Washington ja keine erfreulichen Nachrichten zu erwarten. Die Vorstellung, dass es im aktuellen Klima so etwas wie eine respekt-, ja liebevolle politische Gegnerschaft geben könnte, müsste man eigentlich ins Reich der Phantasie verbannen. Um so mehr ließ mich am letzten Wochenende ein Artikel in der „Frankfurter Rundschau“ aufhorchen. Er erwärmt Herz, Seele und Verstand, obwohl er von einer Trauerfeier berichtet.
Der Artikel führt in eine ferne Ära zurück, in der womöglich eine andere politische Kultur herrschte. Er beschwört die jahrzehntelange Freundschaft, die zwischen den vormals erbitterten Gegnern Jimmy Carter und Gerald Ford bestand. Während des Präsidentschaftswahlkampfes 1976 hatten die Zwei einander nichts geschenkt. Man stritt mit harten Bandagen. Der Demokrat hielt dem Republikaner insbesondere vor, dass er seinen Vorgänger Richard Nixon begnadigt hatte. Ihre Freundschaft begann, nachdem Carter selbst das Weiße Haus verlassen hatte. Sie war so innig, dass die versöhnten Rivalen sich schworen, die Trauerrede bei der Beisetzung des jeweils anderen zu halten. Da der im Alter von 100 Jahren verstorbene Carter seinen Freund überlebte, hielt dessen Sohn Steven die Rede und musste beim Verlesen oft genug mit Tränen der Rührung kämpfen. Diese Botschaft eines parteiübergreifenden Respekts wird gewiss nicht im Sinne des designierten Präsidenten sein. Kein Wunder, dass er darauf besteht, während seiner Amtseinführung am Montag keine Sternenbanner auf Halbmast anschauen zu müssen.
Von einer späten, zärtlichen Aussöhnung handelt auch der letzte Akt von Shakespeares "Henry V". Nach der entscheidenden Schlacht von Agincourt schwören England und Frankreich, fortan Frieden zu halten. Das Unterpfand des heiteren Waffenstillstands ist die Liebe: Der siegreiche englische König umwirbt Prinzessin Katherine, die er besitzergreifend heiraten wird. Das geht ganz flugs im Königsdrama. Nachdem wir am vergangenen Samstagabend Laurence Oliviers Verfilmung im Konzerthaus am Gendarmenmarkt gesehen hatten, stellte sich meiner Begleiterin und mir mithin in die Frage "Warum nicht gleich so?". Den Habsburgern hat die Heiratspoltik schließlich auch zuverlässig Machtzuwachs beschert.
Die erste von Oliviers drei Shakespeare-Adaptionen wurde dort live mit großem Orchester unter dem agilen Dirigat von Frank Strobel aufgeführt. William Waltons berühmte Partitur gilt gemeinhin als die beste seiner insgesamt 15 Filmmusiken. Zweifellos ist es die komplexeste: Das Rundfunk Sinfonieorchester, der Rundfunkchor Berlin sowie der Kinderchor der Staatsoper standen vor einer wuchtigen Aufgabe. Strobel wusste den ausgreifenden Klangkörper sowie das Publikum über die Dauer von fast zweieinhalb Stunden hinweg mitzureißen. Zuvor in der Einführung zeigte er sich bereits als pointensicherer Sachwalter der Aufführung von Filmmusik im Konzertsaal. Dieser gewissenhafte Entertainer schätzt temperamentvolle Partituren. (Am selben Ort habe ich ihn schon einmal erlebt, wie er den nicht ganz unverwandten "Iwan der Schreckliche" dirigierte: "Einiges Russland" vom 20. 9. 2016). Waltons Musik vermag zwar zu schweigen, mischt sich im Gegenzug aber auch entschlossen ins dramatische Geschehen ein. Mitunter war man dankbar für die Untertitel, denn Shakespeares Verse wurden zuweilen heftig übertönt. In seiner Konzerteinführung hatte Strobel noch beklagt, dass Walton auf der Mono-Tonspur von 1944 oft unter dem "Geschnatter" verschwindei. Nun also Vergeltung und Rehabilitation in einem.
Dabei beginnt die Partitur lyrisch sacht, mit einer Flöte, die wie ein Luftgeist über einem putzigen Modell des London von 1600 schwebt. Dazu weht ein Blatt im Wind, das sich als zeitgenössisches Theaterplakat entpuppt, welches die Aufführung des Stückes annonciert. Die schwelende Ouvertüre, von Chorgesang sanft unterfüttert, begleitet die agile Suchfahrt der Technicolor-Kamera, seinerzeit ein Mordstrumm, über die Stadt und schwillt an, als sie Shakespeares Globe Theatre entdeckt (zur Zeit der "Henry V"-Uraufführung noch Playhouse genannt) und sich ihm sodann zielstrebig nähert. Oliviers Film setzt an in dem Theater und zelebriert schaulustig den Trubel vor, auf und hinter der Bühne. Sein „Henry V“ ist eine muntere Verschwisterung der beiden Künste, der Regiedebütant schöpft gierig ihre verschwenderischen Ausdrucksmittel aus. Dabei atmet sein Film auch später, wenn er das Globe hinter sich lässt und mit den englischen Invasionstruppen Truppen nach Frankreich übersetzt, weitestgehend Studioluft, nur wenige Einstellungen sind an Realschauplätzen gedreht.
Schauspiel und Film verschachteln sich auf zugängliche Weise. Ein amerikanischer Kritiker nannte das einmal "a series of chinese boxes". Die Schichtung der Ebenen, welche auch die Vertikalität des Globe-Dekors aufgreift, vollzieht Walton klangsinnlich nach. Er changiert behände zwischen dem Einsatz der Theatermusiker und seiner nicht-diegetischen Partitur und arbeitet zeitgenössische Melodien aus zwei Epochen, dem frühen 17. und frühen 15. Jahrhundert, in diese ein. Ein bloßes pastiche wird daraus nicht, dafür ist der Komponist zu selbstbewusst. Zugleich hält sein Score noch eine 1944 eminent gegenwärtige Klangbotschaft bereit: "Henry V" sollte patriotische Sprengkraft haben und die Moral im fünften Kriegsjahr stärken. Das erschließt sich im Nachhinein nicht ohne Mühen und Verrenkungen – immerhin ist England hier der Aggressor, wie sollte das als Propaganda gegen Hitler durchgehen? Meine Kollegin und ich rätselten. Aber damals verfing das. Oliviers Film war ein Riesenerfolg, auch in den USA, und wird Winston Churchill ohne Zweifel besser gefallen haben als der satirisch-abtrünnige "The Life and Death of Colonel Blimp" von Powell&Pressburger.
Als Filmkomponist beteiligte sich Walton ausgiebig am War Effort. Allein 1942 kamen vier Filme mit propagandistischer Agenda heraus, die er vertonte: "The First of the Few" (staatstragend entschlossen), "The Foreman went to France" (mit komödiantischen Zwischentönen). "Next of Kin" (argwöhnisch, denn das ist ein auch nach Kriegende viel gezeigter Feind-hört-mit-Aufklärungsfilm) sowie "Went the day well?", dem erstaunlichsten Kriegsfilm dieser Zeit (über eine lokale Invasion der Nazis, derer sich die Dorfbewohner mit bunuelscher Grimmigkeit erwehren), dessen getragen wachsamen Marsch ich besonders schätze. Der historische Anspielungsreichtum hebt "Henry V" aus diesem Kontext hervor: als ein Epos heroischer Rückversicherung.
Zum ersten Mal sah ich Oliviers Verfilmung 1990 iwährend der Berlinale-Retrospektive "Das Jahr 1945", wo er mich absolut verzückte. Ich glaube, in der "taz" schwärmte ich damals, so hinreißend könne Demagogie sein. Bestimmt hatte mich auch der ausgesprochen begeisterte Text, den Helma Sanders-Brahms für die Retro-Publikation schrieb, zu derlei Unfug ermutigt. Heute lese ich ihn anders, denn er fängt die Ambivalenz des Films klug ein. Sein pièce de résistance ist die lange Sequenz, in der sich Henry am Vorabend der Schlacht unerkannt unter seine Truppen mischt. Da erfährt er von ihren Ängsten, Zweifeln und ihrer glühenden Loyalität. Er kennt den Preis, um den er sie aufs Schlachtfeld in Agincourt schickt. Diese Passage kommt ganz ohne Waltons Zuspruch aus. Frank Strobel konnte für eine Viertelstunde beruhigt Platz nehmen und still diesem Glanzlicht des Kinos folgen. Darauf folgt am Morgen die berühmte Anfeuerung der Truppen, die Dabeisein-ist-alles-Rede an die "band of brothers", mit der Henry die erschöpften Soldaten animiert.
Olivier zeigt sich hier als ein wirklich ansteckender Schauspieler. Die Kollegin, die mich begleitete, war anderer Ansicht. Sie fand ihn eitel. Warte erst einmal Kenneth Branagh in der Rolle ab, gab ich zu Bedenken. Und es erstaunt mich, wie selten die Titelfigur des Stücks im ersten Akt überhaupt auftritt, der weitgehend von flamboyanten Nebenfiguren bestritten wird. Er erstreitet sich nach und nach die privilegierten Momente, der wehrertüchtigende Furor seiner Rede zum Saint Crispin's Day, auf den Agincourt 1415 fällt, ist geschickt vorbereitet. Das feindliche Lager strotzt derweil vor Übermut, die französischen Feldherren prosten einander schon vor der Schlacht zu, mit Ausnahme des Konstablers, den Leo Genn als eine Insel der Skepsis im Meer der Siegesgewissen spielt. Nach gewonnener Schlacht wächst Henry auf dem eroberten Terrain ein enormes Maß an Charme und Esprit zu. Sanders-Brahms erinnert daran, dass Olivier einen durch und durch französischen Namen trägt. Ich war gründlich eingestimmt, als ich am nächsten Morgen die erhebende Geschichte über Carter und Ford las.
Das Schöne an der konzertanten Begleitung von Filmen sei, erklärte Strobel in seiner Einführung, dass diese sich nicht verändern: Sie geben jeden Abend die gleichen Einsätze vor. Die meisten von Ihnen werden nicht dabei gewesen sein, als er „Henry V“ voller Klanglust am Gendarmenmarkt interpretierte, einige wenige vielleicht, als er dies vor einiger Zeit im Gewandhaus in Leipzig tat. Sie können indes einen Eindruck vom Gespann Olivier-Walton auf Heimmedien gewinnen. Ich schätze die DVD-Ausgabe der Criterion Collection, es gibt bestimmt noch andere. Und obwohl der Komponist überzeugt war, dass ein Score nur im Zusammenspiel mit dem Film funktionieren solle, stimmte er zu, dass die Partitur nachträglich als Suite überarbeitet wurde und herauskam. (Ebenso übrigens wie die "Spitfire Prelude and Fugue" aus "The First of the Few".) Der englischsprachige Wikipediaeintrag informiert über die verschiedenen Fassungen, die sie zur Not auch auf Youtube nachhören können.
Um einen Kreis noch zu schließen – zum Eintrag „Die zweite Wahl“ vom 7. 1. - will ich kurz von einem Nachspiel berichten. Olivier wusste, was seine Shakespeare-Verfilmungen "Henry V", "Hamlet" und "Richard III" dem Beitrag von Walton zu verdanken hatten. Als dessen Partitur für "Luftschlacht um England" 1970 von den Produzenten abgelehnt wurde (zu altmodisch, nicht zeitgemäß) , drohte er, seinen Namen aus dem Vorspann und der Plakatwerbung zurückzuziehen. Genutzt hat es nicht viel. Ich glaube, nur seine Titelmusik blieb erhalten. Der Rest stammte aus der Feder von Ron Goodwin, der sich mit seinem Score für "Kampfgeschwader 633" für diese Aufgabe empfohlen hatte. Andere Zeiten, andere patriotische Sitten.
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