Hochachtungsvoll

Er war nicht darauf gefasst, in die Kamera blicken zu müssen. Womöglich war er gerade mit anderem beschäftigt; obwohl es nicht so scheint, als habe die Fotografin ihn aus seinen Gedanken gerissen. Ein leises Lächeln kündigt sich an. Die Aufmerksamkeit des Apparates stört ihn nicht, aber sein Ausdruck verrät doch einen leichten Vorbehalt. Der Moment ist aus dem Leben gegriffen, Michel Piccoli trägt nicht die Maske des Schauspielers.

Agnès Varda hat dieses Porträt während der Dreharbeiten zu ihrem Film „Les créatures“ (Die Geschöpfe, 1966) aufgenommen, in dem Piccoli neben Catherine Deneuve die Hauptrolle spielt. Sein Gesicht wirkt noch etwas schmaler als später, aber die Stirn ist bereits hoch und die Schläfen sind graumeliert. In dem Antlitz ist Bereitschaft zu lesen. Das Foto gibt nicht vor, ihn zu ergründen. Aber es lässt eine Vertrautheit spüren, die wechselseitig ist. Wieder einmal hat der Alexander Verlag ein gutes Händchen bei der Auswahl eines Umschlagmotivs bewiesen. Das französische Original von „Ich habe in meinen Träumen gelebt“, das vor gut einem Jahrzehnt erschien, ziert ein klassisches Halbprofil des Schauspielers. Es ist vergnügt, aber weniger verlockend, geschweige denn bezeichnend.

Denn auch in diesen Erinnerungen, die die altgediente Form eines Briefwechsels angenommen haben, findet eine Annäherung zwischen zwei wachen Geistern statt, die einander vertraut sind. Piccoli und Gilles Jacob kannten sich seit Ende der 1960er Jahre, als Letzterer noch nicht der einflussreiche Leiter des Festivals von Cannes war, aber sich bereits einen Namen als Filmkritiker gemacht hatte, den man fürchten durfte. Im Laufe der Jahrzehnte entstand ein Einverständnis, das von Respekt getragen war. Es konnte auch schelmisch sein, wie ausgelassene Beispiele ihrer früheren Korrespondenz im Anhang des Buches demonstrieren. Dem Briefverkehr des Hauptteils eignet hingegen eine schleichende Dringlichkeit, denn Piccoli fürchtet, sich immer weniger auf sein Gedächtnis verlassen zu können. Das ist auch ein trauriges berufliches Verhängnis, denn keine Gesellschaft ist mehr bereit, seine Theater- oder Filmauftritte zu versichern. Nun zieht der unfreiwillige Ruheständler, der noch Pläne hat, auf Geheiß von Jacob eine Lebens- und Schaffensbilanz. Er stellt sich dieser Aufgabe mit der gleichen Hingabe, mit der er sich zuvor den Visionen seiner Regisseurinnen und Regisseure unterordnete. Der Siezfreund stellt ihm jeweils eine erkleckliche Liste von Fragen, die Piccoli gründlich und pflichtbewusst beantwortet. Eine Biographie entfaltet sich im entspannten Schnelldurchlauf, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, aber voller Akribie im Wesentlichen.

Piccolis Anfänge sind durchaus entmutigend. Die Eltern arbeiten als Musiker, üben ihren Beruf aber ohne Begeisterung aus. Auch die Schule bringt ihm wenig. Seine Lehrer sind „traurige Gestalten von farblosem Ernst“, die weder zu Inspiration noch Förderung taugen. Seiner Passion für das Theater stellen sich jedoch nach dem Krieg keine Hindernisse (auch nicht von den Eltern) in den Weg. Die vorläufige Brotlosigkeit seiner Kunst schreckt ihn nicht, er lebt genügsam und lernt begierig. Die Leidenschaft, mit der er seinen Beruf ergreift und ausübt, wird als Gegengift zum elterlichen Mangel an Enthusiasmus zu einem Leitmotiv in seinen Briefen. In seinen Augen ist sie ein Garant für Qualität - der Maßstab, den er für sich und seine Kolleginnen und Kollegen anlegt. Er nennt wenige beim Namen, schreibt großzügig, diskret und verblüffend beiläufig über sie. Einzig über Yves Montand weiß er nichts Gutes zu berichten. Saftige Enthüllungen muss man nicht erwarten; erst recht nicht über seine Ehefrauen. Von den immensen finanziellen Rückschläge, die er als Produzent erlitt, wusste ich bislang noch nicht.

Übersetzer Ralph Eue, der die Zwiesprache als Charakterprosa erhält und um nützlichen Anmerkungen ergänzt hat, spricht in seinem Nachwort von einer „leise daher kommenden Korrespondenz“. Fürwahr, der anarchische Furor, mit dem bei diesem Darsteller stets zu rechnen war, ist einer unberechenbaren Besonnenheit gewichen. Piccoli gibt sich glaubhaft bescheiden, fast schamhaft. Eitelkeit, Prätention und Überheblichkeit fürchtet er als Fallen, in die er tappen könnte. Das Schreiben fungiert als ein Abwehrzauber. Belehrung liegt ihm fern. Er enträtselt seinen Beruf nicht: statt Einblicken in die Werkstatt liefert er vielmehr Philosophie. Das Geheimnis spielt in seiner Arbeit eine wesentliche Rolle, das des Werks ebenso wie das des Schauspielers. Lust soll sie bereiten und Spaß machen. Es liest sich schnell, dieses schmale Bändchen. Ich fing gestern am angebrochenen Sonntagmorgen an und entwickelte den Ehrgeiz, die Lektüre bei Tageslicht zu beenden. Das war nicht sportlich gedacht, sondern atmosphärisch. Im vorweihnachtlchen Dämmerlicht hätten diese Erinnerungen eventuell zu besinnlich gewirkt. Dabei wollen sie sich „der Schwere widersetzen“. Ihre Melancholie ist hell und heiter, sie braucht keinen Kerzenschein.

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