Nosferatu – Der andere Vampir
»Nosferatu – Phantom der Nacht« (1979). © 20th Century Fox
Er ist nicht so populär wie Dracula. Und er taucht immer in Krisenzeiten auf. Zum Start des neuen Nosferatu-Films folgt Georg Seeßlen der blutigen Spur des einsamen Unholds von den Klassikern in die Pop-Moderne
Man würde ihm wirklich nicht gern begegnen, schon gar nicht in der Nacht, diesem rattenzähnigen, riesenohrigen Glatzkopf mit den spinnenhaften Gliedmaßen und den Krallenhänden. Es ist, als hätten sich Hieronymus Bosch, E. T. A. Hoffmann und H. P. Lovecraft zusammengetan, um das zugleich schrecklichste und auch wieder unschuldigste Wesen zu erschaffen, das man sich im Dreieck Mensch, Tier, Dämon vorstellen kann. Unschuldig, weil das absolut Böse ja gar nicht anders kann. Nosferatu ist sein reinster Ausdruck, und wer sich schon vor seinem Schatten fürchtet, der sollte erst einmal seinen Blick ertragen. Das bewusstlose Begehren. Nicht Hass ist das Gegenteil von Liebe, sondern, nun ja, »Nosferatu«.
Vermutlich hat diesen Namen nebst dem vampirischen Wesen seines Trägers ein deutsch-österreichischer Gymnasialprofessor erfunden, was denn sonst. Wilhelm Schmidt, Professor am k.k. Staats-Gymnasium in Hermannstadt, verfasste im Jahr 1865 eine Abhandlung über »Das Jahr und seine Tage in Meinung und Brauch der Rumänen Siebenbürgens« und erzählte dabei vom »Vampyr – nosferatu«, aus den angeblichen Volkssagen der Gegend: »Es ist dies die uneheliche Frucht zweier unehelich Gezeugter oder der unselige Geist eines durch Vampyre Getödteten, der als Hund, Katze, Kröte, Frosch, Laus, Floh, Wanze, kurz in jeder Gestalt erscheinen kann und wie der altslavische und böhmische Blkodlak, Vukodlak oder polnische Mora und russische Kikimora als Incubus oder Succubus – zburatorul – namentlich bei Neuverlobten sein böses Wesen treibt.« Seitdem spukte die Gestalt durch Reiseerlebnisse und Legenden-Nacherzählungen vorzugsweise aus Britannien, und jedes Mal bekam sie andere Eigenschaften und andere Entstehungsgeschichten. Nur dass der Nosferatu – angeblich ein altes rumänisches Wort für »untot« – irgendwas mit Sex, Blut, Tieren und finsteren Wäldern zu tun hat, das blieb konstant. Bis der irische Schriftsteller Bram Stoker, angeregt durch eine Begegnung mit dem Wissenschaftler Ármin Vámbéry, der möglicherweise übrigens auch als Geheimagent unterwegs war, die Geschichte von Vlad III. Drăculea, als »Vlad der Pfähler« bekannt, einem offensichtlich ziemlich sadistischen Fürsten aus der Walachei des 15. Jahrhunderts, mit dem Vampyr-Mythos des Nosferatu verband. Sein Roman »Dracula« wurde zur Blaupause für den Vampir des unterhaltsamen Horrors für das bürgerliche Publikum im beginnenden 20. Jahrhundert. Der verführerisch-dekadente Graf aus dem Sarg, der es auf die blassen Hälse unzufriedener junger Ladys aus der Upper Class abgesehen hat.
Nach ein paar zumeist verschollenen Auftritten im frühen Stummfilm war Friedrich Wilhelm Murnaus »Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens« von 1922 der erste große Versuch, der Dracula-/Nosferatu-Gestalt eine Filmerscheinung zu widmen. Dass es sich um eine unautorisierte Verfilmung des Romans handelte, gegen die die Witwe von Bram Stoker mit Erfolg klagte, ist bekannt. Tatsächlich aber war man zu dieser Zeit noch wenig pingelig mit geistigem Eigentum; der Prozess der Witwe wurde daher zu einer Art Präzedenzfall. »Dracula« wurde auf diese Weise zu einem der ersten Franchise-Objekte der populären Kultur.
»Nosferatu«, technisch gesehen also ein Plagiat, ist vor allem ein expressionistischer Gegenentwurf zum »Dracula« aus der Zeit nach der schwarzen Romantik. Nosferatu ist der hässliche Vampir, einer, der kaum etwas mit dem verführerisch-dekadenten Wesen der Vampire aus den erotischen Nachtmahren des bürgerlichen Schauers zu tun hat. Das Verhältnis zu seinen weiblichen Opfern ist nächtliche Gewalt, sein Biss ist keine Variante des Kusses, eher eine Vorform des Verschlingens, seine Arme sind Greifer mit furchtbaren Krallen, die ganze Gestalt ist auch derb spinnenförmig (man hat eine Wolfsspinnenart nach unserem Vampir benannt), die erlösende Hingabe hat nichts mit unterdrücktem Begehren, sondern nur mit dem Opfer zu tun, wenn auch in kaum einer der Nosferatu-Fantasien so deutlich wie bei Werner Herzog, der in seiner Adaption von 1979 ein Sinnbild männlicher Einsamkeit liefert. Wenn es neben der Angst etwas gibt, das man diesem Untoten gegenüber empfindet, dann vielleicht einen Anflug des Mitleids. Dass der Vampir durch das Licht getötet werden kann (statt durch Albernheiten wie Knoblauch, durch christliche Symbole oder durch die mehr oder weniger moderne Wissenschaft), ist reiner Murnau. Und es entspricht dem expressionistischen Dualismus von Schwarz und Weiß, der immer damit droht, dass das eine das andere vollkommen auslöscht. Der Schatten wird durch das Licht bezwungen, das des Heils oder das der Aufklärung. Vielleicht.
Auf jeden Fall bildet Nosferatu das Modell für eine Linie des Vampirfilms, die sich nie in den Vordergrund bringen konnte, die aber auch nie ganz verschwunden ist. In dieser Linie ist der Vampir nicht die Perversion von Eleganz und Schönheit, sondern ein Dämon der Art von Francisco de Goya oder Honoré Daumier; nicht einer, der aus den Spiegeln tritt (und folgerichtig selbst kein Spiegelbild mehr hat), sondern einer, der aus dem Schattenreich erscheint (und folgerichtig schließlich nur noch Schatten ist). Der Schatten von Nosferatu in F. W. Murnaus Film ist zweifellos schauriger als alles, was man sich dann als materielle Erscheinung im Film imaginieren kann, weil er eine ganz andere Größe suggeriert. Nicht viel anders verhält es sich mit Ivan dem Schrecklichen in Sergej Eisensteins erstem Film. Wie sich im zweiten Teil der durchaus vampirische Herrscher in den Farben auflöst, seinen Schatten gleichsam durch Pracht verbirgt, so geht auch der Vampir im sich entwickelnden filmischen Horrorgenre vom schwarz-weißen Schrecken in die farbige Ambiguität über. Im Schatten übersteigt die Bedrohung das Subjektive und wird zur politischen Metapher. So haben es Lotte Eisner und mit ihr Werner Herzog gesehen.
Bela Lugosi in Todd Brownings reichlich theatralischem, aber gerade darin so modellhaftem Dracula wurde zum kanonischen Modell. Dabei geht es um den Vampir, der seine großen Auftritte hat. Bei Murnau und einigen seiner Nachfolger aber war der Vampir vor allem Erscheinung. Der eine kommt aus den feuchten Träumen, der andere aus dem Schlaf der Vernunft. Jedenfalls schien es für längere Zeit unmöglich, sich einen Vampir nicht als einen zum Pathos neigenden, leicht morbiden Adligen mit einem langen schwarzen Mantel und sorgfältig frisiertem Haar vorzustellen, der sich in der Welt der Bürger so privilegiert bewegt, weil sie in Wahrheit ihre Revolution nicht verarbeitet haben. Als Graf ist Dracula immer auch der Wiedergänger einer entmachteten Herrscherschicht, und nicht wenige Filme enden damit, dass das Volk die Aufgabe übernehmen muss, die feudalen Gespenster zu vertreiben, wofür das Bürgertum zu schwach geworden ist. Und wo, wenn nicht beim Geld, findet der Vampir die Schwachstelle? Es sind die Frauen, deren erotische Energie von den bürgerlichen Würstchen nicht gebändigt werden kann. Es bedarf einer väterlichen Gestalt der Wissenschaft, des Dr. Van Helsing, um das sexuelle Monster sehr, sehr symbolstark (wieder) ins Jenseits zu befördern.
Bei Nosferatu und seinen Nachfolgern liegt die Sache ganz anders. Zum einen ist dieser Vampir auf Masse aus; er bringt die Ratten und damit die Pest mit sich, er will nicht verführen, er will vernichten. Anders als Dracula macht Nosferatu seine Opfer durch den Biss nicht zu den Seinen. Sie wechseln nicht ins Reich der ewig Lebenden, sie sind einfach tot. In den Rattenszenen der »Nosferatu«-Filme fällt es schwer, zwei Assoziationen zu vermeiden: den »Rattenfänger« im Märchen und die Ratten-Metapher im antisemitischen Hetzfilm. Nosferatus Bedrohung ist nie nur personell, sie ist immer auch kollektiv (das ist das schwere Erbe des deutschen »Tyrannenfilms«).
Es gibt noch eine weitere Unterscheidung zwischen den Linien des Vampirfilms, zumindest als Tendenz. In der klassischen Form ist der Film der Dracula-Linie ein Indoor- und Kulissenfilm, die Architekturen und Kostüme bilden ein semantisches Abbild eines magischen Raums, aus dem es erst einmal so gut wie kein Entrinnen gibt. Das Schloss. Und die Parodie davon: die bürgerliche Villa. Bei Nosferatu wird dieser Raum verlassen, und es sind gerade die Weite, der suggestive Raum, die den Schrecken auslösen. (Der Legende nach ist das Schloss in »Nosferatu« übrigens dasselbe, das Franz Kafka zu seinem Erzählgeflecht inspirierte.) Der »Nosferatu«-Film ist ein Outdoorfilm; neben die Architektur tritt mindestens gleichwertig die Landschaft. Murnaus Entscheidung, in den Karpaten zu drehen, panoramatische Blicke zuzulassen, den Wäldern und ihren natürlichen Ornamenten Aufmerksamkeit zu schenken, unterscheidet auch den Mythos grundsätzlich. Man reicht vor die Engführung der Schauerromantik in die romantische Natur zurück. Graf Orlok ist letztendlich auch Teil dieser Natur, ihr Bild, ihr Unterworfenes. Und zusammen mit den Ratten ist es nicht das Bild einer Erlösung, einer Unsterblichkeit, sondern nur das Bild des Untergangs. Der Nosferatu-Vampir ist ein Bote des Weltuntergangs (der in der Natur indes schon immer »gelauert« hat). Und das haftet selbst an seinen minder grandiosen Nachfahren.
Der »gute« Wissenschaftler aus Stokers »Dracula« und seinen Verfilmungen, Dr. Van Helsing mit seinen Beziehungen zum Okkulten wie zum Christlichen, kommt in »Nosferatu« gerade mal als Nebenfigur vor. Nichts davon, weder die christlichen Rituale noch die moderne Wissenschaft, haben der Zerstörungskraft der Vampire etwas entgegenzusetzen. Das Urbild des Rattenfängers ist wohl eines, das in den Bürgern eine Erregung erzeugte, einen Kinderkreuzzug initiierend. Kollektive Hysterie. Bei Murnau sind die Ratten auch die Boten eines anarchischen Ausbruchs; schwerer zu sagen, wofür sie bei Werner Herzog stehen. Lucy bei Herzog ist dagegen die Einzige, die die Gefahr erkennt; ihr Opfer drückt vor allem die Ignoranz der anderen aus.
Dass Murnaus »Nosferatu« einer der bedeutendsten Filme aller Zeiten ist, an dem man Filmsemantik wie die Anwesenheit des Autors in seinem Werk, Bildkomposition wie – politische – Metaphorik studieren kann, muss man nicht mehr betonen. Umso mutiger Werner Herzogs Remake, das immer zugleich Hommage, Variation und Kommentar ist. Es ist ein Farbfilm, der sich dem Schwarz-Weiß des Originals annähert, Schattierungen von Blau und Grau erprobend. »Blau ist das männliche Prinzip, herb und geistig. Gelb ist das weibliche Prinzip, sanft, heiter und sinnlich. Rot die Materie, schwer und brutal und stets die Farbe, die von den anderen Farben bekämpft werden muss«, so hat Franz Marc die sonderbare Farbenlehre des Expressionismus begründen wollen. Noch das fahlste Gelb in diesem Film hat wenig Chancen.
Werner Herzog verbeugt sich vor Murnau und dem Drehbuchautor Henryk Galeen, muss aber nicht alle ihre Camouflagen mitmachen; in der Namensgebung der Figuren kann er sich zur Vorlage von Bram Stoker bekennen. Er erzählt die Geschichte noch einmal, aber seine Schauspieler sind eben nicht nur Erscheinungen, sondern ganze Wesen – einzig Isabelle Adjani scheint wirklich nur Bild zu sein, was die Geschichte schon einmal auf den Kopf stellt. Der Vampir fällt auf das Bild seines Begehrens herein. Die zweite große Veränderung betrifft den Schluss, der auf den ersten Blick zynischer ist als bei Murnau (wir erinnern uns an Roman Polanskis »Tanz der Vampire« oder Mario Bavas »Planet der Vampire«): Diejenigen, die glauben, das Böse bezwungen zu haben, werden in Wahrheit zu Instrumenten seiner Verbreitung: Jonathan Harker (Bruno Ganz), wie er hier wieder heißt, wird nach dem Opfertod seiner Frau zum Nachfolger des Vampirs. Möglicherweise aber ist das weniger eine Negation als vielmehr die Konsequenz aus Murnaus Bild vom Vampir als böse Natur. Sie ist niemals besiegt, sie ändert nur die Gestalt.
Für Herzog und vielleicht auch Klaus Kinski zeigt sich in dem Filmwesen vor allem, so Herzog, »wie einsam er da ist – und wie menschlich«. Für Herzogs Nosferatu geht es wieder um die Zeit. Für ihn ist »Zeit ein Abgrund, Jahrhunderte tief«. Er besteht gewissermaßen aus reiner Qual, und auch bei Herzog ist die Landschaft Bild der Seele, beinahe in allem aber drohend, von den Bergen über die Wolken bis zur Ewigkeit der Meereswellen. Die Naturmetaphern sind hier schon mehr Illustrationen, die Tierstimmen, Käuzchen, Wolf und Fledermaus, der Lichtstrahl, der auf den Vampir und auf Lucys Schoß fällt, eine »Orgie« der pestkranken Bürger. Und nicht zuletzt die Polemik gegen die Wissenschaft und ihren Aufklärungswahn – es ist, als hätte man etwas auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt. Bei Herzog darf Dr. Van Helsing (Walter Ladengast) wieder eine größere Rolle spielen. Nicht wie in »Dracula« als Gleichgewicht, doch genug, um sich nicht, wie bei Murnau, von einem einzigen Kraftzentrum bewegen zu lassen.
Aber es geht auch um die Wandlung des bürgerlichen Helden vom abenteuerlustigen Jungen über den tief verstörten Mann hin zur neuen Inkarnation des Bösen. Einen Fortschritts- und Moderne-Ekel will man darin gelesen haben. Van Helsing wird als Verräter am vermeintlichen Wohltäter ins Gefängnis gebracht, in dem es schon keine Wächter mehr gibt. Ein hübsches Bild für die Absurdität von Ordnungen.
»Mein Film handelt von einer Gemeinschaft, die gepackt ist von Furcht, von einem anonymen Schrecken, der kaum benannt werden kann. Die Ratten sind entscheidend, weil sie diese Invasion der Furcht bezeichnen«, meinte Werner Herzog und erkannte in Murnaus Film »den ersten, der die spätere Barbarei voraussagte«. Nosferatu – noch eine Vorahnung des Faschismus (und die »Ansteckung« von Jonathan Harker daher eine Revision im historischen Wissen)? Tatsächlich wird der hässliche Vampir immer wieder als Vorbote oder »Führer« einer kommenden Tyrannei gezeichnet, so einer wie der Master in der Serie »Buffy the Vampire Slayer«, Anführer einer uralten Vampirgemeinschaft, die aus dem Untergrund die Welt (wieder) erobern will – ausgerechnet an einem Ort namens »Sunnydale«.
Werner Herzogs »Nosferatu« war, ganz ohne Häme, dem Kunsthandwerk sehr nah. Formen und Beziehungen werden mit Sorgfalt und Liebe zum Detail ausgeführt, ein Meisterstück, das für diesen Regisseur mit enormem Budget und mit der erklärten Absicht, ein größeres Publikum anzusprechen, seinen Weg machte, auch wenn die deutsche Kritik mehrheitlich ziemlich ungnädig reagierte. Jetzt wäre eigentlich der Weg frei gewesen, den Nosferatu-Vampir, den abscheulichen, wieder in den Mainstream des Genres zu übertragen. (Der Christopher-Lee-Dracula war zu dieser Zeit selbst in die Phase des Manierismus eingetreten und wohl auch schon ein paar Mal zu oft parodiert worden.) Was also lag näher, als Klaus Kinski noch einmal die Rolle des Orlok übernehmen zu lassen. »Nosferatu in Venedig« hätte wohl eine so schrille wie bildmächtige Fortsetzung des Herzog-Films werden können, oder wenigstens ein gewagter Sprung in die Trash-Morbidität des italienischen Horrorfilms zwischen Dario Argento und Lucio Fulci. Dass er weder das eine noch das andere wurde, liegt nicht zuletzt an einer chaotischen Produktionsgeschichte. Mehrere Regisseure wurden verschlissen, die wenigen guten Regieideen wurden schließlich nicht ausgeführt, weil sie zu teuer waren oder Kinski was dagegen hatte. Der Kardinalfehler des Films aber war, dass er seine Figur nicht verstand. Weder von der Einsamkeit bei Herzog noch von der bösen Natur bei Murnau war hier etwas zu spüren.
Dieser zweite Nosferatu hat mit dem ersten außer dem an Herzogs Film angelehnten Kinski-Kostüm kaum etwas gemeinsam. Schon der Plot ist pure Genre-Routine: Zu Zeiten des Karnevals kehrt der Vampir Nosferatu nach Venedig zurück, um sich die Frauen einer Adelsfamilie zu krallen, die irgendwas mit einer ehemaligen Geliebten zu tun haben. Weder der okkultistisch versierte Professor Catalano noch die Geistlichen können ihn aufhalten, also muss man wieder an das Selbstopfer anknüpfen. Das Ganze ist eher eine Etüde mit Störgeräuschen als eine »Symphonie des Grauens« – und trotzdem bleibt »Nosferatu in Venedig« ein Schmuckstück in jeder Sammlung schön kaputter Filme.
Der andere, der hässliche Vampir indes musste anders zu seiner Erneuerung gelangen. Das funktionierte einerseits, indem man ihm den Subjektstatus nahm, wie in John Carpenters »Vampires«, die einfach eine unbändige Wildheit verkörpern, unter dem Staub der amerikanischen Mythologie des Westerns. Von hier führt der Weg zu Filmen, in denen es um einen veritablen Krieg gegen die Untoten geht. Oder um den Vampir als reinen Dämon, der wie in »Jakob's Wife« den Weg zu böser Macht weist. Die Hässlichkeit des Vampirs generiert auch eine ganz andere Erzählweise im Subgenre. Statt des schaurigen Hinübergleitens ein radikaler Bruch. Dieser Vampir ist nicht Maske, sondern Fratze.
Der hässliche Vampir ist sozusagen eine Reaktion auf die Vereinnahmung, auf die Romantisierung und Ästhetisierung des Vampirs in großen Filmen wie Coppolas »Dracula«, vor allem aber in den Young-Adult-Serien, wo die Vampire zu bigotten Großstadtkids werden, oder in Romanen und Filmen der Art von »Interview with the Vampire«. Die Bürger sind Vampire geworden und die Vampire Bürger. Dagegen hilft nur Drastik.
Wie bei Carpenter gelingt das, wenn man die Vampire nicht als Einzelwesen, sondern als Horden auftreten lässt (mit einer gefährlichen Nähe zu Zombies) – etwa in Gestalt der Reapers beim Vampirjäger »Blade« oder der »Daybreakers« im Film der Brüder Spierig. Durch eine Redämonisierung und die äußere Verwandtschaft mit dem Murnau-Vampir entziehen sich die Vampire ihrer Domestizierung. Das kann schon in den beiden »Salem's Lot«-Filmen nicht ganz funktionieren: Es ist, so scheint's, dem Vampir aufgetragen, dass er seiner dämonischen Naturhaftigkeit in eine Menschen-Imitation entkommen will. Und doch zeigt der »Nosferatoide«, anders als der durch und durch verbürgerlichte Vampir, dass er immer Tier bleiben wird und dass ihm zum Zeitpunkt seiner Offenbarung auch die Sprache nicht mehr nutzen kann. Aus den spitzen Seitenzähen werden wieder diese ratten- wenn nicht gar biberhaften vorderen Schneidezähne. Aus dem Mund wird ein weit aufgerissener Schlund, mag's an Haifische oder (küchenpsychologisch) an die Vagina dentata erinnern. Die Köpfe werden wieder kahl. Es geht um eine »Ausgeburt«.
Die nosferatoiden Vampire kämpften in ihrem Genre gegen die domestizierten Artgenossen um die Würde der Wildheit, aber sie mussten auch die Ikonisierung der eigenen Erscheinung fürchten. Deswegen mussten nosferatoide Vampire einander beständig überbieten, die Gefahr des Umschlags ins Lächerliche inbegriffen. Für die Eingemeindung in die Bildwelt der populären Kultur war der Nosferatu-Vampir zwischenzeitlich aus dem filmhistorischen Zusammenhang gelöst und als Ikone mehr oder weniger frei verfügbar geworden. Zugleich aber wurde der Nosferatu-Film selbst zum Mythos und in zahlreichen Bearbeitungen vermarktet, einschließlich einer Parodieversion vom einschlägig bekannten William M. Schmalfeldt, Sr., die zum Unkomischsten gehört, das cineastisches Parodieren je hervorgebracht hat. Allerdings durfte eine gelungene Reminiszenz an die Schattenspiele des Schreckens in Mel Brooks »Dracula – Dead and Loving It« nicht fehlen.
Nosferatu gibt es auf Postern und Kaffeetassen, auf Baseballkappen und Motorradtanks. Und über die Entstehung weiß man immerhin so viel, dass man sich einen Spaß aus der Fantasie macht: Wie wäre es, wenn der Darsteller mit dem sprechenden Namen Max Schreck tatsächlich ein echter Vampir gewesen wäre? Die Hommage »Shadow of the Vampire« ist bei weitem nicht so albern, wie die Grundidee vermuten lässt. Da sehen wir einen Regisseur (John Malkovich) wie er ein filmisch entfesseltes Monster (Willem Dafoe) nicht mehr unter Kontrolle bringt, und wir sehen, wie rücksichtslos die Kunst den wahren Schrecken ausnutzt.
Dass es in der Beziehung zwischen Realität und Film anders zugeht als gewöhnlich, wird immer wieder vermutet. So übernimmt eine Arte-Dokumentation diese Assoziation im Titel: »Nosferatu – Ein Film wie ein Vampir«. Man folgt der Figur von Nosferatu durch eine Chronik der Wirkungsgeschichte und entdeckt dabei natürlich auch ihre Aktualität im Pandemiefilm wie als Bezugspunkt für Bands des Gothic Rock. Die Doku landet schließlich bei Peri Baumeister, Darstellerin in der deutschen Netflix-Produktion »Blood Red Sky«: Einmal mehr geht es da um eine (medikamentöse) Unterdrückung des Vampirismus, also den verzweifelten Versuch, eine »alte« Natur in sich zu kontrollieren. Geht es um einen Rückfall oder um einen Vorgriff? Ist das Blutsaugen der Anfang oder das Ende des Menschseins? Die Auseinandersetzung zwischen Mensch und Vampir – in einer Person – macht hier das nosferatoide Ungeheuer zur Beschützerin. Projekt Neue Vampirische Wildheit: Gescheitert.
Vielleicht auch weil das Angst-Haben und das Angst-Machen ihre Parameter geändert haben. Die Angst bricht nirgendwo mehr ein, sie lauert nicht in irgendwelchen Nischen, sie steigt nicht aus misshandelter Natur. Sie ist einfach überall. Deshalb ist ein solch reines Bild wie das des Nosferatu-Vampirs fast schon wieder tröstlich. Und man kann es getrost in den kulturellen Besitz nehmen, aus dem kollektiven Unterbewusstsein direkt ins Museum wie in der Ausstellung »Phantome der Nacht«, wo die vielen Spuren ausgestellt sind, die Orlok-Nosferatu in der Kunst und in der populären Kultur hinterlassen hat.
Nosferatu jedenfalls bleibt als Zitat und Bezugspunkt so lebendig wie als Ikon. Natürlich bekommt er seinen Auftritt bei den »Simpsons«: Er erscheint in den »Treehouse of Horror Specials« und in der Episode »101 Mitigations«, wo kein Geringerer als Guillermo del Toro Orlok als sein Lieblingsmonster vorstellt. Bei »SpongeBob« tritt Nosferatu als direktes Filmzitat in die Animationswelt, doch kaum hat er die Figuren erschreckt, setzt er auch schon ein entschuldigendes Grinsen auf. Ein lachender Nosferatu!
Der hässliche Vampir ist eine der Gestalten, denen wir den Schrecken nehmen, indem wir sie zu Tode zitieren, parodieren und poetisieren. Aber das Rollenspiel kann auch furchtbar schiefgehen, wie in dem Film »Mimesis: Nosferatu«, in dem ein vom Method Acting besessener Student die Nosferatu-Rolle so intensiv verkörpern will, dass er den mörderischen Trieb tatsächlich auslebt. Die Maske, so wird in diesen Fällen klar, hat ihren Inhalt überdauert. Und Nosferatu wird eine Halloween-Maske unter anderen. Hinter der Maske verbergen sich im modernen Horrorfilm am häufigsten psychotische Teenager. Oder dieselben geraten in ein U-Boot aus dem Zweiten Weltkrieg, in »Subferatu: Nosferatu« ist eine Ausgeburt der Nazis. Aber die Wildheit des anderen Vampirs ist auch hier vor allem zum Lachen.
Natürlich ist Nosferatu auch vor allem ein grafisches Ereignis. Kein Wunder, dass so viele Comics daraus entstanden. Es ist die Quintessenz von Schwarz und Weiß und von Perspektiven der Verzerrung, die ganz jenseits von Pathos und Interpretation funktionieren. Nosferatu ist nicht nur die Chiffre des Vampirs, dem es (noch) nicht gelungen ist, eine wirkliche menschliche Gestalt anzunehmen, er ist auch Sinnbild des Expressionismus in der Popkultur. Der erstarrte Augenblick des Schocks. »Niemals war eine Zeit von solchem Entsetzen geschüttelt, von solchem Todesgrauen. Niemals war die Welt so grabesstumm. Niemals war der Mensch so klein. Niemals war ihm so bang. Niemals war Freude so fern und Freiheit so tot. Da schreit die Not jetzt auf: der Mensch schreit nach seiner Seele, die ganze Zeit wird ein einziger Notschrei. Auch die Kunst schreit mit, in die tiefe Finsternis hinein, sie schreit um Hilfe, sie schreit nach dem Geist: das ist der Expressionismus«, so Hermann Bahr über die Krisenzeit, in der »Nosferatu« entstand. Und in jeder Krise erscheint ein neuer Nosferatu, während die Draculas eher für die ruhigeren Zeiten stehen. Wenn es jetzt einen neuen Nosferatu gibt, weiß man zumindest, dass die Zeit der gemütlichen Kaminfeuer-Vampire vorbei ist und wieder einmal nach der verlorenen Seele geschrien werden muss. Die Nosferatus zerreißen nicht nur die Ordnung des bürgerlichen Lebens, sie zerreißen auch das Filmbild – nicht nur in den mittlerweile geläufigen jump scares, in denen wir in das Zahnmaul der Nosferatoiden sehen. Nosferatu unterscheidet sich gründlich von den meisten anderen Monstren des Horrorfilms, die ihren Schrecken schon halb verloren haben, wenn sie endlich aus dem Dunkel getreten sind. Nosferatu wird immer schrecklicher, je öfter man ihn ansieht.
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