Diese Formel geht nicht auf
J.C. Chandor macht es anders. Das gilt ganz allgemein, aber auch im Bezug auf das, wovon mein gestriger Eintrag handelt. Er sucht seine Inspiration nicht in vorangegangenen Filmen. Vielmehr gibt er seine Drehbücher, das behauptet er jedenfalls in Interviews, Freunden zu lesen, die überprüfen sollen, ob etwaige Passagen wie Nachahmungen wirken.
Dieses Bekenntnis zu einem sozusagen präzedenzlosen Filmemachen entnehme ich einem Porträt des Regisseurs, das mein österreichischer Kollege Oliver Stangl gerade in der Zeitschrift „ray“ veröffentlicht hat. Die leuchtende Originalität seiner Filme hat mich in der Tat von Anfang an fasziniert. Bei ihm entwickeln sich Geschichten und Figuren selten so, wie es die Hollywoodkonventionen verschreiben. Das Ungeläufige hat stolzes Bleiberecht in seinen Genrestücken. Aber: Soll „A Most Violent Year“ tatsächlich ganz ohne den Einfluss von Sidney Lumets New-York-Filmen entstanden sein? Auszuschließen ist es nicht, große Geister denken mitunter ähnlich.
Dass er nach seiner eigenen Manier dreht, führt sein Regiedebüt „Margin Call“ (Der große Crash) schon 2011 eindrücklich vor. Dem Wall-Steet-Katastrophenfilm gebricht es absolut an jenem naiven Manichäismus, den Oliver Stone für das Thema etablierte. Da traten Skrupel und Gewissensbisse, Opportunismus und Brutalität in einer Weise auf den Plan, die man nicht zu erwarten war. Oliver kann ich nur zustimmen, wenn er schreibt, der Film schiene aus dem Nichts gekommen zu sein: gedreht von einem Debütanten, der zuvor in der Werbung gearbeitet hatte, dem es aber gelungen war, ein höchstkarätiges Darstellerensemble zu überzeugen: Stanley Tucci, Zachary Quinto, Damian Lewis, Demi Moore, Mary McDonnell, Jeremy Irons und vor allem, das waren noch andere Zeiten, Kevin Spacey. In 17 Tagen bei einem Budget von unfassbaren drei Millionen Dollar realisiert und prunkend mit enormem Insiderwissen (Chandors Vater hatte u.a. bei Merrill Lynch Karriere gemacht) Für und Berliner kam er umso mehr aus dem Nichts, als ein Glücksgriff des Berlinale-Auswahlkomitees, wie er in den Kosslick-Jahren nur selten vorkam.
Damit erklang eine eigenwillige Stimme im Konzert der jungen Autorenfilmer in den USA, die mit Jeff Nichols, James Gray und wenigen anderen allerdings darin vergleichbar war, dass sie unabhängig vom kommerziellen Geschick an ihrem Werk arbeiten wollte. Der Einhänder „All is lost“ erfüllte die Erwartungen von erzählerischem Wagemut, und „ A Most Violent Year“ übertraf sie noch. Das ist für mich einer der herausragenden US-Filme des letzten Jahrzehnts, nicht zuletzt wegen der unvergleichlich nüchternen Ehegeschichte mit Jessica Chastain und Oscar Isaac. Obwohl er anscheinend wenig Kasse machte (Oliver schreibt, dass der Österreichstart sogar kurzfristig abgesagt wurde), hielt sich standhaft das Gerücht und schwelte die Hoffnung auf eine Fortsetzung. Die würde ich gern sehen von diesem Regisseur, der bisher kein Talent zeigte, sich zu wiederholen. Meinem Freund Heiko gelang es, irgendwo eine DVD der Netflix-Produktion „Triple Frontier“ zu ergattern, die Chandow erneut mit Starbesetzung realisierte. Ganz überzeugt hat er mich nicht, aber ich würde mein erstes Urteil gern noch einmal überprüfen.
Nun jedoch stehe ich vor einem Dilemma: Heute ist „Kraven the Hunter“ bei uns angelaufen, Chandors erste Eskapade ins Marvel-Universum. Zum ersten Mal hat dieser Filmemacher mich nicht neugierig gemacht. Ich kann mich partout nicht durchringen, ihn zu sehen. Schlimmer noch: Für den inzwischen von Analysten als unwahrscheinlich eingeschätzten Fall eines Kassenerfolges plant Chandor ein Sequel, In „Collider“ schwärmt er jedenfalls schon von der Möglichkeit, „Kravens Last Hunt“ zu verfilmen. Er will die Helden-, besser Schurkenreise unbedingt fortsetzen. Was hat einer wie er, dem das Formelhafte fremd ist, im Franchise-Geschäft zu suchen? Ist das der Weg allen Fleisches, den bereits Chloé Zhao und Nia DaCosta beschritten haben. Beinahe hätte ich geschrieben; unbegreiflicherweise. Aber die Regiegagen sind in diesen Gefilden womöglich so hoch wie die Budgets ihrer vorangegangenen Filme. Ich hoffe auf die Robustheit von Chandors Eigensinn. Vor letzten Jagden kann er ruhig wieder von ersten Dingen erzählen.
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