Kritik zu Filmstunde_23
Edgar Reitz gab 1968 Gymnasiums-Schülerinnen in München Filmunterricht – und traf sie für diese Dokumentation 55 Jahre später wieder. Was entstand, ist mehr als nur eine Reflexion über mediale Veränderung und Filmpädagogik
Vor dem Hintergrund der aktuellen visuell-medialen Inflation steht die Förderung entsprechender Kompetenzen auch im Schulunterricht derzeit auf dem Forderungskatalog vieler Akteure. Als im Mai 1968 der Filmemacher Edgar Reitz damit begann, klassisch humanistisch vorgebildeten Schülerinnen eines Münchner Gymnasiums die Filmerei »beizubringen«, war die Bilderwelt noch ganz analog, und Videokameras gab es nur für die professionelle Anwendung. Einige Eltern der am Projekt beteiligten Mädchen erhofften sich dadurch auch eine Wappnung ihrer Töchter gegen das als neue Technik empfundene Fernsehen mit seinen damals drei öffentlich-rechtlichen Programmen.
Doch das eigentliche Ansinnen des damals hauptberuflich an der Ulmer Hochschule für Gestaltung angestellten Dozenten war, den Heranwachsenden durch den Film als »allgemeines Intelligenzmittel« (so Reitz) eine den Zeiten angemessene Ausdrucksform zur Verfügung zu stellen. Zu diesem Zweck verteilte er nach einer gründlichen – mehr inhaltlichen als technischen – Anleitung Super-8-Kameras an eine achte Klasse des Münchner Luisen-Gymnasiums und ließ sie damit in selbst gewählten Arbeitsgruppen kleine Filme nach eigenem Gusto realisieren, die – von der dokumentarischen Beobachtung bis zur Satire – erstaunlich vielfältig gerieten.
Dann wurde aus dem vierwöchigen Experiment auch noch ein 45-Minüter von Reitz (»Filmstunde«) für das Studienprogramm des Bayerischen Rundfunks, der heute auch ein aufschlussreiches Zeitdokument in pädagogischen Umgangsformen ist. Denn obwohl der damals 35-jährige Regisseur aus heutiger Sicht im Stil sehr oberlehrerhaft daherkommt, offenbart sich schnell ein ungewöhnlich ernsthaftes Interesse an der Erkundung der jugendlichen Lebenswelten – inklusive des Aufbrechens der »Klischees, mit denen sie [die Mädchen] ihre eigenen Interessen tarnen«.
Über ein halbes Jahrhundert später traf sich 2023 ein Großteil der Klasse wieder mit dem mittlerweile neunzig Jahre alten Filmemacher und einem begleitenden Filmteam um den Dokumentarfilmer Jörg Adolph (»Die große Passion«) und rekapituliert in gemeinsamen Sitzungen und aufgezeichneten Einzelstatements die damaligen Erfahrungen und ihre (durchweg bereichernden) Auswirkungen auf das eigene Leben. Aus der klug komponierten Montage dieser Begegnungen mit Elementen des alten Materials entstand dieser neue Film, der neben prägnanten Einsichten zu medialen Zeitenbrüchen und zeitlos gültiger visueller Grammatik auch erfrischende Erkenntnisse zu den pubertären Erfahrungswelten der »Boomerinnen« liefert. Nur schulpolitisch wurde die von Reitz als Pilotprojekt gedachte Unternehmung als Solitär zum großen Flop. So bleibt das zu Anfang beider Filme eingeblendete Zitat des 1884 geborenen ungarischen Filmtheoretikers Béla Balász zur Würdigung institutioneller Filmbildung bis heute gültig: »Solange Film nicht an der Schule gelehrt wird, nehmen wir die wichtigste Revolution der menschlichen Bildung nicht zur Kenntnis.«
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