Kritik zu A Real Pain
Die zweite Regiearbeit des vielfältig talentierten Schauspielers Jesse Eisenberg schickt zwei entfremdete Cousins auf eine emotionale Reise nach Polen
Der touristische Blick hat im Kino einen schlechten Leumund. Das muss man nicht bedauern, obwohl seine praktischen Vorzüge – ein Schauplatz lässt sich immerhin in Sekundenschnelle mittels seiner Wahrzeichen etablieren – nicht von der Hand zu weisen sind. Womöglich nicht ganz zu Unrecht unterstellt man Amerikanern eine Vorliebe für solch erfahrungsarmes Reisen: In Übersee scheinen sie sich über nichts mehr zu freuen, als Landsleuten zu begegnen. Benji (Kieran Culkan) entspricht mitnichten diesem Archetyp. Die Kulturerbe-Tour, die er zusammen mit seinem Cousin David (Jesse Eisenberg) zu Stätten jüdischen Lebens in Polen unternimmt, dauert erst wenige Tage, als er ihrem beflissenen Reiseführer (Will Sharpe) vorhält, sie seien noch keinem einzigen normalen Einheimischen begegnet. Der Vorwurf sitzt. David selbst wiederum hat die letzten Tage genutzt, um Fotos von architektonischen Details und weiteren Eigentümlichkeiten zu machen, die ihm am Rande ihrer Exkursionen sacht ins Auge fielen. »A Real Pain« handelt von Tourismus – und reflektiert ihn zugleich vielschichtig.
Allerdings sind die ungleichen Cousins immens mit sich selbst und miteinander beschäftigt. Ihre verstorbene Großmutter, die den Holocaust dank »tausend Wundern« überlebte (so lautet die Familienlegende), hat ihnen ein kleines Erbe mit der Aufforderung hinterlassen, ihr Geburtshaus in einer Kleinstadt zu besuchen. Die zwei waren einmal unzertrennlich wie Brüder, haben sich seither aber etwas aus den Augen verloren. Der pflichtbewusste, beherrschte David geht in seinem Berufs- und Familienleben auf. Benji, aus dessen Vornamen noch kein Erwachsenenleben spricht, verwindet ihre Entfremdung nur schlecht; er empfindet sie als einen Verrat. Er trauert tief um die Großmutter, mit ihr hat er seinen engsten Berührungspunkt zum Leben verloren. Im Gegensatz zu David trägt er sein Herz auf der Zunge und ist heillos impulsiv.
Benjis manisch-depressive Kontaktfreude stellt die Reisegruppe vor Herausforderungen, die wechselweise ulkig, turbulent oder peinlich sind. Es ist nur eine kleine Schar: ein langweiliges (Selbstbezichtigung) Rentnerehepaar aus Ohio, deren jüdische Vorfahren mit der »Mayflower« in die USA kamen; eine frisch geschiedene Frau, die ihrem Leben eine neue Richtung geben will; schließlich ein Überlebender des Völkermords in Ruanda, der zum jüdischen Glauben konvertiert ist. Benji spielt in diesem Kreis die Rolle des Unruhestifters. Seine Einfühlsamkeit, mag sie noch so narzisstisch grundiert sein, stellt augenblicklich Anknüpfungspunkte, auch Wertschätzung her. Und oft ist es grandios, wie er die Feierlichkeit der Unternehmung torpediert – der Fototermin am Denkmal für den Warschauer Aufstand ist fulminant.
Als Autor und Regisseur schenkt Eisenberg nicht allen Reisegefährten die gleiche Aufmerksamkeit (sein Film dauert nur verblüffende anderthalb Stunden), aber seine Freude ist spürbar groß, dass sie allesamt mit von der Partie sind. Als Darsteller lässt er seinem Partner Culkin den Vorrang. Diese großzügige Zurückhaltung beflügelt den gesamten Film, dessen dramaturgische Bewegung vom Offiziellen zum Intimen führt. Der diskrete Zusammenhalt zwischen Orten und Emotionen wird mit jeder Etappe inniger. In Lublin sind alle Anzeichen jüdischen Lebens verschwunden, aber Davids Fotokamera spürt ihnen dennoch nach. Der Weg nach Majdanek ist bestürzend kurz, nicht einmal vier Kilometer liegen zwischen der Stadt und dem Konzentrationslager. Dort kehrt eine atemberaubende Stille in den Film ein (selbst Chopin schweigt, dessen Klänge ihn bisher zuverlässig begleiteten), als Mychal Dymeks Kamera die Reaktionen der Reisenden aus dem Inneren eines Verbrennungsofens studiert.
Der tiefe Schmerz des Titels ist mithin ebenso historisch wie privat gemeint; Benji beansprucht kein Monopol auf ihn. Eisenbergs Film trägt wundersam leicht daran. Sein Dialogwitz wirkt in keinem Moment frivol. Vielmehr ist er belastbar: Er gründet in der Würde. Trauer verträgt sich nicht mit dem touristischen Blick. Eisenberg ist gründlich gegen ihn gefeit, er weiß, wie genau er hinschauen darf und wie er seine Figuren dann, voller Zuversicht, mit ihr allein lassen kann.
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