Kritik zu Anora

© Universal Pictures

2024
Original-Titel: 
Anora
Filmstart in Deutschland: 
31.10.2024
L: 
139 Min
FSK: 
Ohne Angabe

Der Gewinn der Goldenen Palme in Cannes war nach ­eigener Aussage das große Ziel, auf das Sean Baker hingearbeitet hat. Geschafft hat er es mit einem Werk, das eine Kulmination seines bisherigen Schaffens darstellt 

Bewertung: 5
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Der amerikanische Regisseur und Autor Sean Baker hat seine Themen schon lange gefunden. In »Starlet« (2012) ging es um eine junge Pornodarstellerin in Los Angeles, in »Tangerine L.A.« (2015) um zwei Transgender-Prostituierte auf den Straßen Hollywoods, in »The Florida Project« (2017) um eine alleinerziehende Mutter, die sich notgedrungen prostituiert, und in »Red Rocket« (2021) um einen arbeitslosen Ex-Pornostar in der texanischen Provinz: Sex und Arbeit, marginalisierte Gruppen und ein Ringen um die eigene Würde. Jedes Mal gelingt Baker dabei das Kunststück, die unterschiedlichen sozialen Mikrokosmen und die Facetten moderner Sexarbeit so neugierig wie vorurteilsfrei zu erkunden. Seine Milieu- und Charakterstudien sind liebevoll, aber nicht romantisierend, humorvoll, aber nicht herablassend, bitter, aber voller Optimismus, humanistisch, aber nicht didaktisch.

In diesem Sinne stellt Bakers jüngster Film »Anora« eine Kulmination seines bisherigen Schaffens dar. Er hat alles, was die oben genannten Werke auszeichnet, nur ein bisschen größer, ein bisschen schriller und ein bisschen ambitionierter. Das kann man durchaus ambivalent bewerten, mehrheitsfähig ist es aber, wie der Preis in Cannes zeigt.

Die erste Szene wirft uns mitten hinein ins Geschehen und ist vintage Sean Baker: Offensichtlich befinden wir uns in einem Stripclub, die Kamera fährt hinterrücks an einer Reihe nahezu nackter Frauen entlang, die zu Discomusik erotische Lapdances an zahlenden Kunden vollführen. Blanke Hintern, sexy Rhythmen, laszive Frauen und lüsterne Kerle – man kann das in seiner unbekümmerten Darstellung provokativ finden, aber voyeuristisch ist es nicht. Vielmehr etabliert Baker binnen weniger Momente einen Arbeitskosmos mit ganz eigenen Regeln, an der Oberfläche spielerisch, mit nüchternem Blick aber doch sehr sachlich und mechanisch. Eine der jungen Frauen ist Anora (Mikey Madison), von allen nur Ani genannt. Sie sticht aus der Reihe heraus, weil sie mit besonderer Leidenschaft bei der Sache ist – man könnte auch sagen, dass sie ihren Job besonders gut beherrscht. Dieser Schwebezustand zwischen Zärtlichkeit und Abgebrühtheit verleiht Ani eine besondere Aura, aber dass Sexarbeit vor allem Arbeit ist, daran lässt Baker, wie immer, keinen Zweifel.

Eines Abends soll Ani sich im Club um einen jungen Russen kümmern, weil sie aus Usbekistan stammt und etwas Russisch spricht. Der junge Mann heißt Ivan, wird aber von seinen Freunden Vanja genannt. Er ist knapp volljährig und lebt als Sohn eines steinreichen Oligarchen in Brighton Beach, einem russisch geprägten Viertel von Brooklyn. Die beiden verstehen sich gut, und am Ende lädt Vanja Ani (gegen Bezahlung) in seine absurd große Villa ein, die mit ihren riesigen Fensterfronten und den lichtdurchfluteten Räumen einen visuellen Gegenpol zum schummrigen, fensterlosen Stripclub bildet. Für eine »Gage« von 15.000 Dollar wird aus der einen Nacht ein exklusives Engagement für eine Woche, in der Ani die dekadente Welt ihres superreichen Freundes kennenlernt. Grenzen scheint es für den verwöhnten Burschen nicht zu geben, sein Leben ist eine einzige große Party, von der Ani sich so verzaubern lässt, dass sie während eines rauschhaften Trips nach Las Vegas sogar Vanjas bekifften Hochzeitsantrag mit Begeisterung annimmt.

Baker inszeniert diesen ersten Abschnitt des Films wie eine frivole Version von »Pretty Woman«, allerdings mit klugen Hinweisen darauf, dass die Sache nicht so romantisch enden wird, wie Ani es sich erhofft. Ihre Naivität in dieser Hinsicht könnte man als Glaubwürdigkeitsfallstrick betrachten, doch das schiere Tempo der Inszenierung und die spürbare Chemie zwischen Mikey Madison und Mark Eydelshteyn lassen ein spielverderbendes Hinterfragen gar nicht zu.

In seinem jungenhaften Charme wirkt Vanja aber immer etwas zu aufgekratzt, um wirklich glücklich zu sein, und zu sprunghaft, um vertrauenswürdig zu sein. Sein unsympathisches Machtspiel gegenüber einem Casino-Manager sollte Ani eine Warnung sein. Doch sie hält an ihrem Traumprinzen mit der Vehemenz eines Menschen fest, der nie eine echte Chance hatte. Die Romantik weicht der Realität, als Vanja bereits kurz nach Anis Einzug wie ein gelangweilter alter Ehemann vor dem Fernseher hängt.

Unterdessen haben Vanjas Eltern von der Hochzeit ihres Sohnes erfahren und entsenden ihren in Brooklyn ansässigen Kontaktmann Toros (Karren Karagulian), um die Ehe stante pede annullieren zu lassen. Als Toros mit seinen Handlangern Garnick (Vache Tovmasyan) und Igor (Yuriy Borisov) in der Villa auftaucht, eskaliert die Situation: Der panische Vanja ergreift die Flucht und lässt die ebenso verdutzte wie verängstigte (aber durchaus kämpferische) Ani zurück. Fortan bilden die drei Russen und Ani eine mehr oder weniger freiwillige Zweckgemeinschaft, um den ungezogenen Sohn und flüchtigen Ehemann aufzuspüren, bevor seine allseits gefürchteten Eltern im Privatjet aus Moskau eintreffen.

Die Suche führt das Quartett durch ganz Brooklyn und gibt Baker reichlich Gelegenheit für pointierte Milieuskizzen. Vor allem aber wechselt der Tonfall der Inszenierung von sexy-märchenhafter Romantikkomödie zu streetsmarter Screwball-Comedy, mit rasantem Tempo, messerscharfen Wortgefechten und einem Irrwitz, bei dem immer eine gewisse Düsterkeit mitschwingt. Dank Bakers inszenatorischem Geschick wirkt der Tonwechsel nicht wie ein Bruch, sondern wie aus einem Guss; sogar als die Geschichte gegen Ende eine weitere, überraschend bittere Wendung nimmt, begreift man das als logische Konsequenz einer Erzählung über Klassenverhältnisse, Macht, Geld und Würde.

Neben der stolzen Sexarbeiterin Ani, deren Darstellerin Mikey Madison zu recht in höchsten Tönen gelobt wird, ist die Entwicklung der drei russischen Handlanger bemerkenswert. Als Zuschauer hält man den gestressten Familienvater Toros, den tölpelhaften Garnick und den schweigsamen Igor zunächst für Knallchargen wie aus einem Ernst-Lubitsch- oder Billy-Wilder-Film. Aber durch beiläufige Szenen und pointierte Dialoge machen Baker und seine hervorragenden Darsteller sie zu vielschichtigen Persönlichkeiten, zeigen sie in ihrer Menschlichkeit, ohne ihre brachialen Seiten zu trivialisieren. Je mehr Zeit Ani mit ihnen verbringt, desto mehr erweisen sie sich als Leidensgenossen, als Spielfiguren einer gedankenlosen Oberschicht – wobei insbesondere die Darstellung von Vanjas Oligarchenvater die üblichen Klischees ebenfalls unterläuft.

Es ist diese Sensibilität im Umgang mit Figuren und Milieus, diese Mischung aus Überhöhung und Realismus, die Bakers Filme so besonders machen. Selbst Szenen, bei denen er sich im Ton zu vergreifen scheint, etwa wenn er Anis gewaltsame Überwältigung durch Igor unangenehm auf Lacher trimmt, werden durch spätere Situationen aufgefangen und fügen sich plötzlich ins Bild. Baker traut den Zuschauern zu, das zu erkennen. Es lohnt sich auch, darauf zu achten, wie im Hintergrund der chaotischen Suche beinahe unmerklich eine zarte Liebe zu keimen beginnt. Erst am Ende, in der letzten Szene, wird klar, um wessen Beziehung es die ganze Zeit ging. Da gibt es noch mal eine Art Heiratsantrag, noch mal eine Art Lapdance, noch mal eine Gratwanderung zwischen Sex(-arbeit) und körperlichem Übergriff – oder ist es ein Innehalten? Nach allem, was Ani durchgemacht hat, ohne ihre Würde zu verlieren, brechen die Emotionen unvermittelt aus ihr heraus. Sean Bakers Film ist manchmal vielleicht etwas zu selbstgewiss in seiner grellen Kühnheit, doch er endet mit einem leisen, intimen Moment zwischen Hilflosigkeit, Vertrauen und Wärme. Als Zuschauer trifft einen das unvorbereitet – und mitten ins Herz.

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