Ein Beamter sieht rot
"Die Dinge hatten sich angepasst", heißt es im Roman, als die Tragödie ein paar Wochen zurückliegt, "wie ein Fuß an einen neuen Schuh." Nach meiner Erfahrung verhält es sich zwar eher umgekehrt, aber das Bestrickende an Vincenzo Ceramis Prosa besteht gerade darin, dass sie immer etwas daneben liegt. Im Hinblick auf die Ereignisse und Seelenlage Giovanni Vivaldis muss man sagen, dass sie damit meist richtig liegt.
Vivaldi ist der Protagonist und irgendwie auch Held von Vincenzo Ceramis Romandebüt "Un borghese piccolo piccolo", der gerade unter dem Titel "Ein ganz normaler Bürger" in einer neuen Übersetzung im Alexander Verlag Berlin erschienen ist. Der Mann mit dem illustren Nachnamen ist ein Beamter, der seit 30 Jahren im Innenministerium mit der Pensionskasse befasst ist. Sein eigener Ruhestand steht bevor, jetzt richten sich alle Hoffnungen auf seinen Sohn Mario, der gerade seine Buchhalterlehrer beendet hat und dem der Vater um jeden Preis einen Posten im Ministerium verschaffen will. Auf dem Weg zur Aufnahmeprüfung jedoch werden die Zwei in einen Raubüberfall verstrickt und Mario von der Kugel eines der Flüchtenden tödlich getroffen. Das passiert genau in der Mitte des Romans, in dessen zweiter Hälfte Giovanni sich anschickt, Vergeltung zu üben für den ufälligen, nein willkürlichen Tod.
Morgen (16. 10) wird er im Filmmuseum Frankfurt vorgestellt. Der Schauspieler Detlev Nyga wird aus ihm lesen, bevor im Anschluss Mario Monicellis Verfilmung läuft, die 1977, nur ein Jahr nach Veröffentlichung des Romans, in die italienischen Kinos kam. »Un borgheses piccolo piccolo« ist einer der herausragenden und zugleich schwierigsten Filme des Meisters der Komödie, der zeitlebens davon überzeugt war, dass dieses Genre ohne die Präsenz des Todes eine Lüge sei. Mithin ist der Abend auch ein fabelhaft cinéphiler Auftakt der Buchmesse, deren Gastland in diesem Jahr Italien ist - was übrigens auch eine günstige Gelegenheit wäre, Einspruch einzulegen gegen die heftigen Kürzungen, die dem Deutschen Übersetzungsfonds derzeit drohen.
Vincenzo Cerami gehört eigentlich zu jener Sorte Schriftstellern, die mir immer ein wenig unsympathisch sind. Er betrachtete die Drehbucharbeit stets als einen reinen Brotberuf und sah sich vornehmlich als Romancier. Dabei hat er an einigen exzellenten Filmen mitgewirkt, in seiner ersten großen Zeit mit Marco Bellocchio und Gianni Amelio gearbeitet und später gutes Geld als Szenarist von Roberto Benigni verdient. Für »Das Leben ist schön« erhielt er gar eine Oscarnominierung. Angefangen hat er als Regieassistent bei Pier Paolo Pasolini, der Anfang der 1950er sein Lehrer auf dem Gymnasium gewesen war. Am Drehbuch zu »Un borghese piccolo piccolo« schrieb er eingangs kurz mit, um dann die Adaption dem großen Sergio Amidei zu überlassen.
Die Hochnäsigkeit einiger Schriftsteller gegenüber dem Kino ist mir immer ein wenig suspekt. Das bedeutet freilich nicht, dass ihre Romane nicht wunderbare Filmvorlagen sind (siehe Georges Simenon) und ist kein Argument gegen ihr eigentliches Talent. »Ein ganz normaler Bürger« ist also einerseits ein fabelhaftes Sprungbrett für die filmische Vorstellungskraft von Amidei und Monicelli und zugleich ein Roman von hohem literarischen Rang. Esther Hansen hat ihn flüssig und zuweilen verblüffend übersetzt. Ceramis Stil schillert zwischen Umgangssprache ("So lief das eine Weile. Der Mörder wollte nicht krepieren.") und den Gedankenflügen Giovannis, der sich nach dem Tod des Sohnes in einem mulmigen Stand der Gnade fühlt (er betrachtet die Welt „abwechselnd aus der Sicht des mildtätigen Priesters, der weltzugewandten Künstlers oder des erfahrenen Phänomenologen"). Mit dem Schutzumschlag hat der Verlag einen Glücksgriff getan: Es zeigt das Heck eines Fiat 850 im Anschnitt. Das Gefährt ist nicht nur Giovannis zuverlässigster Komplizen (treu wie ein Hund, nur nicht so mitteilsam), sondern evoziert ein Milieu, ja eine ganze Epoche.
Es ist ein Büroroman, der aber nur selten dort spielt. Wenn doch, dann mit satirischer Verve: Giovanni und seine Kollegen sitzen hinter so hohen Aktenbergen, dass man nie sagen kann, ob sie nun arbeiten oder nicht. Um die Karriere des Sohnes zu befördern, tritt Giovanni auf Geheiß seines Vorgesetzten Dottor Spaziani einer Freimaurerloge bei, was Anlass zu aberwitzigen Szenen ist. Ebenso bizarr ist sein Besuch in der Wartehalle für Särge (ein weitere Erniedrigung: nicht einmal auf dem Friedhof kommen die Vivaldis voran) Die Realität wird hier nur sacht unterlaufen; vorstellbar ist das alles. Die Prosa ist so sehr im Alltäglichen verankert, dass sie zuerst gar nicht fassen kann, was Mario zustößt, sie ist wie benommen, muss erst iinehalten, um dann zu rekapitulieren, wie es zu dem unvorstellbaren Schicksalsschlag kommt. Beim Auftakt zu Giovannis Rachefeldzug ist sie nicht weniger verdutzt. Cerami setzt kühne Ellipsen, sodass der Wandel, den Giovanni vollzieht, umso verstörender ist. Seinem Gebaren ist der Schock kaum anzumerken, den er erlebt hat. Er kehrt mit wundersam frischem Elan zum Alltag zurück, den "übernatürlichen Pflichten des Arbeitstieres". Insgeheim wähnt er sich in einem Stadium tieferer Einsicht, einem phantastischen Überlegenheitsgefühl, das das Mittelmaß seiner Existenz vibrieren lässt.
Beim Lesen hatte ich die forsche Unterwürfigkeit Alberto Sordis stets vor Augen, des einzigen Schauspielers, der Katzbuckelei mit kerzengeradem Rücken spielen kann. Monicellis Verfilmung hatte ich bestimmt 20 Jahre nicht gesehen und war überrascht, wie offensiv sie sich der Vorlage bemächtigt. Es geht zupackender, temperamentvoller zu in der kreuzfidelen Tragikomödie. Dafür sind zu einem Gutteil die Darsteller verantwortlich. Sordi, der gut zwei Jahrzehnte zuvor in "Ein Held unserer Tage" für Monicelli einen ähnlich kleinlauten Bürohengst verkörperte, ist ganz ergriffen vom Opportunismus' Giovannis. Shelley Winters verleiht seiner im Roman schweigsamen Frau deftiges Relief. Mario, der im Buch offener gezeichnet ist, wird dank Vincenzo Crocitti zu einem Filius, der mitnichten das hellste Licht auf der Torte ist. Mit den Schuppen, die aus Spazianis (Romano Valli) schütterem Haarschopf purzeln, übertreiben es Amidei/Monicelli allerdings ziemlich.
Das Unfassbare der jähen Gewaltausbrüche bleibt bei ihnen erhalten. Im Schlussteil gehen Buch und Film indes entschieden andere Wege. Der Moment, in dem Giovanni den Mörder bei einer Gegenüberstellung erkennt, geht im Roman mit einem inneren Kampf einher. Für Monicelli besitzt die Heranfahrt auf Sordis Gesicht Evidenz genug. Im Danach werden die unterschiedlichen Titel beredt. Das Original ist natürlich phänomenal (die erste Übersetzung von 1977 hieß „Nur ein Kleinbürger“), aber »Ein ganz normaler Bürger« trifft Giovannis mulmige Rückkehr zur grauen Routine sehr gut. Monicellis Film gelangte übrigens auf mysteriösen Wegen zu dem Titel »Die bleiernen Jahre«, obwohl er bei uns nie gestartet ist. Morgen bietet sich also eine seltene Gelegenheit. Aber vielleicht bleibt es nicht die einzige, denn Marilena Savino vom Verlag versicherte mir, dass es auch in Berlin (und anderswo?) Vorstellungen dieses wiederentdeckten Kleinodes der italienischen Nachkriegsliteratur geben soll.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns