Kritik zu Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte
Der österreichische Autorenfilmer Michael Haneke schlägt neue Töne an. Seine Geschichte eines bigotten Dorfes, in dem sich merkwürdige Unfälle zutragen, ist fast so etwas wie ein Fantasythriller
Der Erzähler – es spricht die altersweise Stimme Ernst Jacobis – hebt wie von altersher zu erzählen an, ist jedoch darauf bedacht, sich von vornherein abzusichern. Für den Wahrheitsgehalt dessen, was sich in der protestantischen mecklenburgischen Dorfgemeinde am Vorabend des Ersten Weltkriegs zugetragen hat, will er keine Garantie übernehmen. Obwohl er als junger Dorflehrer alles hautnah miterlebt hat. Es begann mit dem Unfall des Arztes, den der Film so drastisch und realistisch wie möglich vor Augen führt. Der Mann galoppiert auf seinem Pferd heran und stürzt dem Zuschauer direkt vor die Füße. Ein Schocker. Ein Seil, das einer absichtlich über den Weg gespannt haben muss, hat den »Unfall« ausgelöst – man sollte eher von einem Anschlag sprechen. Später ist das Seil wie vom Erdboden verschwunden. Noch später wird die Beobachtung ausgesprochen, dass »die Kinder« eigentlich immer in der Nähe gewesen seien. Man sieht die kleine Truppe nach dem ersten Vorfall auf der Dorfstraße: Klara, die Älteste, die stets in Schwarz gekleidete Pfarrerstochter, herausragend in der Mitte, eine Anführerin. Es ist wiederum der Dorflehrer, der aus den nicht enden wollenden Anschlägen zuletzt als Einziger seine kriminalistischen Schlüsse zieht, aber er kann die Wand des Schweigens nicht durchbrechen.
Was aber geschieht? Nach dem Sturz des Arztes stirbt die Bauersfrau bei einem »Unfall« im Sägewerk, der sechsjährige Sohn des Gutsherrn wird mit heruntergelassenen Hosen und Striemen auf dem Po gefunden, die Scheune des Gutsherrn brennt, das Baby des Verwalters überlebt die Kälte am offenstehenden Fenster in einer Winternacht – nur wer hat es dort hingestellt? Die Vorfälle reihen sich wie die Terrorakte einer »kriminellen Vereinigung« aneinander, nehmen zunehmend perverssadistische Züge an. Es trifft vor allem die Schwachen und Abhängigen, die als Sündenböcke und Stellvertreter quasi hingerichtet werden – die autoritären Strafaktionen der Oberen und Privilegierten des Dorfes, Baron, Verwalter, Pfarrer, Arzt bleiben weitgehend ungesühnt. Wenn der Pfarrer seine verstockten Kinder mit dem Tragen des »weißen Bandes« abstraft, unterwerfen sie sich mit undurchdringlichen Gesichtern: widerspruchslos, doch hasserfüllt. Weiß ist auch das Band, mit dem er den pubertierenden Ältesten über Nacht ans Bett fesseln lässt. Demütigen und Bloßstellen heißen die hier angewandten Foltermethoden. Die sanfte Fessel des weißen Bandes täuscht nur notdürftig über die wahren Gewaltverhältnisse, ein Geflecht aus Ritual, Aberglauben und Obrigkeitsdenken, hin weg. Deshalb gibt es weder Ankläger noch Richter. »Ein feste Burg ist unser Gott«, singen die Kinder am Ende beim Gottesdienst auf der Empore. Die schwarze Abblende fällt über ein letztes Bild in trauter Scheinheiligkeit.
Tod und Untergang gehörten von Anfang an zur Ultima Ratio des Michael Haneke, der sich vor genau zwanzig Jahren mit dem Siebten Kontinent und dem rätselhaften Kollektivselbstmord einer Familie in den Olymp der Autorenfilmer katapultierte. Seitdem kreisen seine Gegenwartsgeschichten um »die Vergletscherung der Gefühle«, mittlerweile ein Schlagwort. Ursachenforschung betreibt der Regisseur erst seit Caché (2004), wo er einem Schuldzusammenhang aus der Kindheit nach spürt. Im historischen Ambiente von Das weisse Band geht er nun entschlossen den um gekehrten Weg, indem er facettenreich und detailgenau die Ausbildung eines »autoritären Charakters« nachvollzieht – es geht um die von Adorno bis Wilhelm Reich geschilderten Folgen einer repressiven Erziehung, die als verantwortlich für das perverssadistische Verhalten Einzelner oder auch für das autoritäre kollektive Bewusstsein einer Gruppe oder eines Volkes angesehen werden.
Die blendend schönen hyperrealistischen Bilder Hanekes, die Landschaften in kunstvolle Radierungen verwandeln, jedes Detail, jede Gesichtsregung registrieren, könnten Aufklärung betreiben, könnten ohne weiteres die Beweise dafür vorlegen, wo sich das Wahnhafte vom Normalen trennt. Doch der erklärte Realist Michael Haneke besteht auf dem Geheimnis, bedient sich lieber der Erzählmuster des Fantasygenres, vielleicht um seiner Grundidee, den »gemeinsamen Nenner« terroristischer Taten aufzudecken, die schärfste Waffe zuzuliefern: die Aufstachelung des Zuschauers. Die Reibungsfläche zwischen der auf Wahrhaftigkeit pochenden Ästhetik eines August Sander – eine so noch nie dagewesene, mittels digitaler Technik erzielte Schwarz Weiß Fotografie – und der fehlenden narrativen Auflösung des ungeheuren Geschehens, mag dem atemberaubenden Suspense des Films zugutekommen. Inwiefern die Schönheit der Bilder, das außerordentliche Filmkunstwerk, das dem absoluten Formwillen des Regisseurs geschuldet ist, doch eher zum Sattsehen statt zum Nachdenken auffordert, bleibt jedoch die große Frage. Für ein »billiges« Dokudrama ist sich Michael Haneke jedenfalls zu schade. Als Film- oder Kunstwerkerklärer, steht er, wie er selbst sagt, ebenso wenig zur Verfügung.
Stream [arte bis 31.5.20]
Kommentare
optional
Die Geschichte des "Weissen Bandes",gestern Nacht im TV gelaufen, ist angelegt im preußischen Ostelbien-nicht in Mecklenburg .
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns