Unsterbliche Blätter
"Kennen Sie diese Melodie?" fragt Yves Montand seine Tischnachbarn im Café. "Ja, ich habe sie schon irgendwann einmal gehört", erwidert sein Gegenüber. Verträumt lauschen sie den melancholischen Klängen, die ein Fremder am Tresen auf seiner Mundharmonika spielt. Es ist ein einfaches Thema, einprägsam, berückend.
Joseph Kosma hat es für den Film »Pforten der Nacht« komponiert und ihm eine klangsinnliche Aura von Erinnerung und Vergänglichkeit gegeben, in der sich die Stimmung der Nachkriegsgeneration verdichtete. Obwohl der Film von Jacques Prévert und Marcel Carné bei seiner Uraufführung 1946 ein Misserfolg war, sollte die Melodie unter dem Titel "Les feuilles mortes" zum weltweit bekanntesten französischen Chanson werden; sogar Iggy Pop hat sich daran versucht, obwohl es schon seit 1949 einen englischsprachigen Text gibt, der von Johnny Mercer stammt und "Autumn Leaves" heißt. Das Stück gehörte zum Repertoire von Montand, Juliette Gréco, Frank Sinatra, Tom Jones und Placido Domingo. Besonders beliebt war die Melodie bei Jazzmusikern, Chet Baker, Miles Davis, Bill Evans und andere haben großartige Interpretationen vorgelegt. Und da die Version von Nat King Cole so erfolgreich war, musste Robert Aldrich 1956 den Titel eines Melos mit Joan Crawford in "Autumn Leaves" ("Herbststürme" hieß es bei uns) ändern. Seitdem erklingen die unsterblichen Blätter im Soundtrack von rund 150 Kino-und TV-Filmen. Auf Tonträgern gibt es inzwischen mehr als 600 Versionen; laut der SACEM, der französischen DEMA, gehört das Lied zu den fünf meistverkauften Stücken weltweit.
Es gibt nur wenige Filmkomponisten, die ein so gutes Händchen für Melodien haben, dass sie auch als Chanson- bzw. Songschreiber Erfolg hatten. Nachdem Mercer einen Text zu David Raksins Titelstück aus »Laura« verfasste, wurde ein Klassiker daraus (an dem David leider kaum etwas verdiente, weil die Rechte beim Studio 20th Century Fox lagen). Henry Mancini gehörte ebenfalls zu diesem erlesenen Kreis (auch bei "Moon River" hatte Mercer seine Hände im Spiel). Michel Legrand nutzte sein Talent gleichermaßen in Frankreich (mit Jacques Demy als Textdichter) und Hollywood (wo er meist mit Alan und Marilyn Bergman zusammenarbeitete). Bei Burt Bacharach war es gerade umgekehrt, der fing als Songschreiber an.
Den Chansonkomponisten Kosma widmet der Deutschlandfunk am morgigen Dienstag (30.7.) um 22:05 Uhr eine Sendung, die in der Reihe »Musikszene: musica reanimata« läuft. Sie beruht auf einem Gesprächskonzert, das ich im April leider verpasste. "musica reanimata" ist ein Verein, der sich der Wiederentdeckung von Komponisten widmet, die von den Nationalsozialisten verfolgt wurden. (https://musica-reanimata.de/en/0050.review.html) Der 1905 in Budapest geborene Emigrant Kosma musste sich während der Okkupation in Südfrankreich verstecken, wo er unter anderem die Partitur zu "Die Kinder des Olymp" komponierte. Mit Jacques Prévert bildete er ein einzigartiges Zweigespann, das neben Film- und Ballettmusiken rund 80 Chansons hervorbrachte. Auch "Les feuilles mortes" wurde ursprünglich für eine Choreographie komponiert, "Rendez-vous" von Roland Petit. Inspiriert wurde die Melodie von Jules Massenets "Poème d' Octobre", mithin von Anfang an ein Herbststück. Carné spielte zunächst mit dem Gedanken, Petits Ballett fürs Kino zu adaptieren. Dann floss der Walzer in die Partitur von "Pforten der Nacht" ein. Zwei Jahre nach der Premiere wurde dann "Les feuilles mortes" daraus, die zuerst Cora Vaucaire aufnahm. Yves Montands Version avancierte 1949 zu einem der größten Plattenerfolge der Nachkriegszeit.
Ebenso wechselvoll wie die Entstehung seines berühmtesten Chansons verlief auch Kosmas Biographie. Die Zeitläufte spiegeln sich auf dramatische Weise in ihr. Schon als Jugendlicher begleitete er Stummfilme, bevor er an der Akademie Unterricht bei Béla Bartók nahm. Mit einem Stipendium kam er 1928 nach Berlin, wo die Begegnung mit Brecht, Weill und Eisler sein Bewusstsein dafür schärfte, dem Wort, den Inhalten in seinen Kompositionen einen klaren Platz einzuräumen. Er wollte eine engagierte Musik schreiben, die die Ängste des Menschen in der Moderne abbildet. Sein erklärter Wunsch war es dabei, weder die Musik noch die Poesie zu verraten.
1933 emigrierte er nach Frankreich. Seine große Zeit begann, als er in den Sog sprudelnder Kreativität im Umkreis Préverts geriet, der legendären "Groupe Octobre". Kosma empfand eine augenblickliche Affinität zu diesem Haufen zärtlicher Anarchisten (wie ihn Jean-Louis Barrault einmal nannte), deren Sozialkritik spielerischer, temperamentvoller war. Seine Musik sollte zugleich zugänglich und widerspenstig, und im besten Sinne volkstümlich werden. Nach dem Krieg blieb er der Tradition des literarischen Chansons treu, suchte nun die Nähe der Existenzialisten und setzte Gedichte von Sartre, Raymond Queneau und Robert Desnos in Musik. Er war ein homme de spectacle, der keine abstrakte, sondern vornehmlich szenische Musik komponierte. Die Formenvielfalt seines Werkes ist enorm; er arbeitete auch für die Opernbühne und komponierte Pantomimen für Marcel Marceau – sowie für Baptiste (Barrault) in "Die Kinder des Olymp"! Im Kino konnte er ohnehin aus seiner Erfahrung in all diesen Disziplinen schöpfen, vor allem für Jean Renoir, dann Carné, Henri Decoin, Luis Bunuel, Juan Antonio Bardem. Robert Parrish und andere. Seine Filmmusiken untermalen nicht einfach nur diskret, sondern mischen sich ins dramatische Geschehen ein und setzen merkliche Akzente. Dieser Meister des Nachklangs hat einen festen Platz in der Mythologie des Kinos und Chansons. Ich nehme an, morgen wird es nostalgisch zugehen.
PS: Gerade erfahren ich, dass es beim DLF eine Programmänderung aus Anlass des Todes von Wolfgang Rihm gibt. Kosma ist auf einen bisher ungenannten Termin verschoben.
PPS: Der neue Sendetermin ist der 8. 10.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns