Der unheilige Gral
Nehmen Sie Andy Serkis hoch zehn, dann bekommen Sie eine Vorstellung davon, wer Lon Chaney war. In der Stummfilmära gehörte er zu den zugkräftigsten Stars Hollywoods und war zeitweilig populärer als Douglas Fairbanks, Greta Garbo und John Gilbert. Aber im Gegensatz zu ihnen kannte das Publikum Chaney kaum von Angesicht.
Das Geschick, mit dem er sich hinter Masken und in Kostümen verbarg, brachte ihm den Kosenamen "Man of a Thousand Faces" ein. Das Phantom der Oper und der Glöckner von Notre Dame sowie der rachsüchtige Zirkusclown in „Der Mann, der die Ohrfeigen bekam“ gehören zu den Glanzrollen des Gestaltwandlers. Der Endreim seines Werks ist die unerwiderte Liebe. In »The Unholy Three« (Die unheimlichen Drei) von 1925, den arte heute Nacht ausstrahlt und der in der Mediathek bis zum 20. Oktober abrufbar bleibt,, entsteht daraus nicht nur ein romantischer, sondern zudem ein ethischer Konflikt. Er stellt einen Höhepunkt seiner Zusammenarbeit mit Tod Browning dar und beginnt wie viele Filme dieses Regisseurs im Jahrmarkt- bzw. Zirkusmilieu, genauer: der schäbigen Side show. Chaney tritt dort als Bauchredner Echo auf, dessen Gesicht ausnahmsweise tatsächlich die Züge des Darstellers trägt. Später wird er sich allerdings häufiger als Großmutter verkleiden, denn gemeinsam mit zwei weiteren Jahrmarktsattraktionen heckt er finstere Pläne aus, um reiche Bürger auszunehmen. Dabei spielen ihre jeweiligen Begabungen – Hercules (Victor McLaglen, der bald zur stock company John Fords gehören wird) ist ein Kraftakrobat und der kleinwüchsige Tweedledee (Harry Earles, den Browning ein paar Jahre später auch in »Freaks« besetzt) kann sich überzeugend in das Baby Willie verwandeln – eine tragende Rolle. Eine Dreifaltigkeit der Niedertracht, die ebenso hanebüchene wie raffinierte Raubzüge ausbaldowert. Echos Freundin, die aufgeweckteTaschendiebin Rosie (Mae Busch), gesellt sich gleichsam als ein Satellit hinzu, verliebt sich jedoch in einen ehrlichen Verkäufer, den das Trio als potenziellen Sündenbock beschäftigt.
Brownings Szenarien sind stets bizarr - man muss das Ganze sehen, um es zu glauben. Die Partitur, die arte bei Friedo ter beek bestellt hat, verleiht den Machenschaften zwar keine Logik (was ohnehin unmöglich wäre), aber ziemlichen Schwung. Faszinierend ian »The Inholy Three« ist nicht zuletzt, wie Browning und sein Co-Autor Waldemar Young mit Suspensemomenten experimentieren – sie Szene, in der Baby William die Beute in einem Spielzeug vor dem Polizisten versteckt ist toll ausgeklügelt, ebenso wie die Notiz, die Chaney dem Verteidiger des Sündenbocks zuspielt und die zunächst unentdeckt bleibt Gut möglich, dass Hitchcock, dessen Karriere 1925 noch in den Kinderschuhen steckte, Brownings Stil akribisch studierte.
Vermutlich hat er auch Spuren bei Bunuel hinterlassen. Denn der Regisseur wurde seinerzeit von den Surrealisten hoch geschätzt. Später begeisterte sich Truffaut für »The Unknown« (1927), den er wahrscheinlich bei Henri Langlois in der Cinématheque francaise gesehen hatte. Darin lässt sich Chaney als Zirkusartist die Arme amputieren, um die Liebe der jungen Joan Crawford zu erringen, die eine Phobie vor Umarmungen hat. Die insgesamt zehn Filme, die das Gespann Browning-Chaney drehte, werden gern dem Horrorgenre zugeordnet. Das trifft auf einige zu, aber im Kern sind sie melodramatische Studien menschlicher Monstrosität. Mit Gewissensbissen ist bei Chaneys Figuren freilich immer zu rechnen. Browning war mit der medialen Ausbeutung von Abnormitäten bestens vertraut, seit er mit 16 sein wohlbehütetes Zuhause verließ, um in einer Side show anzuheuern.
Der größte kommerzielle Erfolg des Duos, »London after Midnight« (Um Mitternacht, 1927) gilt als einer der meistgesuchten Titel der Filmgeschichte. Für Horrorfans ist das der heilige Gral. Um ihn ranken sich Legenden. Angeblich soll die einzige existierende Kopie in den 1960er Jahren bei einem Brand im notorischen Kellerarchiv Nr. 7 von MGM zerstört worden sein. 2002 erstellte Rick Schmidlin aus den verbliebenen 200 Szenenfotos für »Turner Classic Movies« eine Fassung, die allenfalls eine Ahnung von dem vermittelt, was 75 Jahre zuvor das Publikum in den Bann zog. Schmidlin, der zuvor den »Director's Cut« von »Touch of Evil« nach Orson Welles' Memorandum rekonstruiert und ähnliches mit der Langfassung von Erich von Stroheims »Greed« versucht hatte, stand diesmal auf ziemlich verlorenem Posten. Er holt zwar alles heraus, was die 200 Fotos hergeben, schenkt auf ihnen herum oder zoomt auf Inserts. Das läuft indes Brownings Inszenierung zuwider, der die Kamera fast nie bewegt, sondern auf die Montage setzt.
Der erste US-Film über einen Vampir wurde selbst zu einem Untoten, immer wieder kursierten Gerüchte von Kopienfunden, obskuren Vorführungen und illegalen Videoaufzeichnungen. Gerüchte über einen Fluch, der auf den Dreharbeiten gelegen haben soll, rissen nicht ab. Auch der Kinostart stand unter einem Unstern, zumindest in London, wo ein Frauenmörder sich vor Gericht mit der Begründung verteidigte, Chaney sei ihm in einem Park erschienen und habe ihn angewiesen, seinen Freundin zu töten. Der Kult um »London after Midnight« hat nicht nur unzählige Artikel und lebhafte Debatten unter Horrorfans hervorgebracht, sondern auch einen sehr vergnüglichen Roman, der mir in der Cinémathèque in die Hände kam, als sie eine Browning-Retrospektive zeigte. Unter dem Titel »Um Mitternacht« ist er vor geraumer Zeit bei Suhrkamp erschienen; in einer robusten, im Detail nicht immer kapitelfesten Übersetzung.
Augusto Cruz erzählt darin eine wundersame Detektivgeschichte Browning und Chaney hätten daran ihre helle Freude gehabt, denn ihr vermeintlicher Horrorfilm ist letztlich ein Krimi. Ein ehemaliger FBI-Beamter erhält den Auftrag, eine Kopie von »London after Midnight« zu beschaffen. Das Unrecht, das wiedergutgemacht werden soll, ist mithin das Verschwinden des Filmerbes. In die Suche nach dieser Schimäre sind zahlreiche reale Figuren verstrickt, der sagenumwobene Filmsammler Forrest Ackerman, der Browning-Biograph David J. Skal (Wann kommt es schon einmal vor, dass man in einem Roman einem Autor begegnet, den man selbst im Regal stehen hat?) und Louise Brooks, die nach Ende ihrer Filmkarriere als Verkäuferin bei Saks arbeitet. Auch der ehemalige Chef des Detektivs, J. Edgar Hoover („...einer, dem das Leben alle Rechnungen gestundet hat."), hat einen denkwürdigen Auftritt.
Cruz hat üppig recherchiert. Über weite Strecken wirkt sein Plot wie eine Variation von Welles »Mr. Arkadin«: "Ein guter Biograph muss ein Feind sein, ein raffinierter Feind." Auch dem Auftraggeber ist also nicht zu trauen. Alle Beteiligten sind im Netz ihrer eigenen Obsessionen gefangen. Ständig gerät der Detektiv auf faszinierend falsche Spuren, so erfährt man beispielsweise, dass bei manchen klammen Produktionen die Mitwirkenden in Naturalien (sprich: Filmkopien) bezahlt wurden. Die Möglichkeit, dass es eine phantastische, übersinnliche Lösung geben könnte, lässt sich nie ganz von der Hand weisen. Der Jäger des verlorenen Schatzes stößt auf mächtige Widersacher, die aus gleichsam abstrakten Motiven, aus philosophischen Erwägungen agieren. Beinahe findet der Detektiv sich damit ab, dass es nicht nur Personen, sondern auch Filme gibt, die Nicht gefunden werden wollen. Am Ende des tollkühn cinéphilen Schmökers verschlägt es den Detektiv in ein entlegenes Schloss im Dschungel und eine Höhle ("ein Felsenarchiv, um die Erinnerung vor dem Rest der Welt zu bewahren."), in der sagenhafte Schätze lagern könnten, sogar die Langfassung von »Greed«, alle neun Stunden! Die Schlusspointe will nicht verraten werden, immerhin geht es darum, dass der Welt nicht jedes Geheimnis verloren geht.
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