Vergifteter Stammbaum

Vor 20 Jahren haben Alice und Louis ein unzertrennliches Band miteinander geknüpft, einen Vertrag, den keines der Geschwister brechen wird. Er wurde geschlossen, als die Schwester dem Jüngeren mit einem Lächeln eröffnete, dass sie ihn hasst.

Woher genau dieser Hass rührt, wird nie ganz greifbar in Arnaud Desplechins Film. Aber wir erleben ihn. Ein Feuer, das aus Willkür entfacht wurde? Die Entscheidung jedenfalls steht fest, den oder die andere aus dem eigenen Leben zu verstoßen, und hat furchtbares Gewicht. Alice (Marion Cotillard) ist eine gefeierte Bühnenschauspielerin im Norden, der Schriftsteller Louis (Melvil Poupaud) hat sich nach dem Tod seines Sohnes mit seiner Frau Faunia (Golshifteh Farahani) in die Berge im Süden Frankreichs zurückgezogen. Es führt nicht einmal eine Straße zu ihrer Einsiedelei, so unzugänglich geben sich deren Bewohner. Über Besucher freuen sie sich dennoch, Frenetisch begrüßt Louis seinen alten Freund Zwy (Patrick Timsit), der aus der Heimat indes traurige Nachrichten mitgebracht hat.

So kommt die Handlung von »Bruder und Schwester« in Gang, der 2022 bei seiner Premiere in Cannes (https://www.epd-film.de/blogs/autorenblogs/2022/ein-schisma) wundersame Reaktionen auslöste. Arte strahlt das Melodram morgen (17.7.) Abend erstmals in Deutschland aus und hält ihn danach einen Monat in der Mediathek vor. Wieder kein deutscher Filmstart für diesen Regisseur! Also willkommen in seinem Kosmos, dessen Zentrum oft in seiner Geburtststadt Roubaix liegt und von Familien handelt, die meist Vuillard heißen. In diesen erzählerischen Brennpunkt kehrt Louis in »Bruder und Schwester« zurück, als ihn die Nachricht erreicht, dass seine Eltern nach einem Unfall im Krankenhaus liegen. Diesen Schicksalsschlag hat Desplechin mit einem unglaublichen Suspense inszeniert, als erschütternden Auftakt, der das eigentliche Spannungsmoment besiegelt: Werden sich die Geschwister nun endlich wieder annähern?

Seit seinem ersten, halblangen Film »Das Leben der Toten« (1991) ist Desplechin fasziniert von der Idee des vergifteten Stammbaums. Sein Kino ist bevölkert von zerstrittenen Geschwistern und Eltern, die von ihren Kindern entfremdet sind. Dabei hält er die Beziehungen in einer verblüffenden Ambiguität. Das Zerwürfnis, die Ablehnung sind auch ein Beweis für die Nähe und das einzigartige Gewicht, die man dem Anderen einräumt. »Liebst Du mich immer noch nicht?« fragt Matthieu Amalric in »Ein Weihnachtsmärchen« (2009) seine Mutter, als sich herausstellt, dass nur seine Knochenmarksspende einen Heilerfolg ihrer Leukämie verspricht. "Habe ich nie getan", erwidert Catherine Deneuve. In der höflichen, auch neckischen Grausamkeit ihrer Aussprache offenbart sich der Respekt, einander nichts vormachen zu wollen. Ob Matthias Glasner diese Szene kennt? Zumindest so viel steht fest: Der Regisseur von »Sterben« hat das Genre der familiären Zerfleischung nicht erfunden.

Wie viel Autofiktion in Desplechins Filmen steckt, ist nicht nur eine einst beliebte Frage für Partygespräche. Sie wurde in Paris bereits vor Gericht verhandelt, nachdem seine ehemalige Lebensgefährtin, die Schauspielerin Marianne Denicourt, Klage gegen ihn einreichte, weil sie ihre Persönlichkeitsrechte durch »Rois et Reine« (Das Leben ist seltsam, 2004) verletzt sah. Der Regisseur sei ein Vampir, der schamlos das Leben seiner Freunde und Geliebten ausbeute und habe schmerzhafte Details aus ihrem Leben verarbeitet. Tatsächlich schienen die Übereinstimmungen zwischen Biographie und Film bis in eigentümliche, nachgerade bizarre Details zu reichen. Das Gericht entschied, es handle sich nicht um einen Schlüsselfilm, betonte jedoch, Desplechins Tauschhandel zwischen Leben und Fiktion ließe Feingefühl vermissen. Auch die Beharrlichkeit, mit der seine Themen verfolgt, scheint stichhaltige Indiz zu liefern. Im Gegenzug gewinnt man in seinem Dokumentarfilm »L'aimée«, der 2007 in Venedig lief, nicht den Eindruck, dass Tischtuch zwischen ihm und seiner Familie sei unwiderruflich zerrissen. Vielmehr gibt sein Vater ihm darin freudig Auskunft über verzweigte Stammbäume und dunkle Flecken in der Familiengeschichte.

Gleichviel, so erbittert wie in diesem Film wurde bei Desplechin noch selten gestritten. Die zwei Titelfiguren sind fest entschlossen, das Attribut Bruder bzw, Schwester aus ihrem Leben streichen. Das ist nicht ganz einfach, da es einen neutralen Dritten gibt, der den reichlich sprechenden Namen Fidèle trägt. An skurrilen Dilemmata fehlt es in dieser Tragikomödie ohnehin nicht. Die Widersacher sind sich der absurden Konsequenzen ihrer Ranküne durchaus bewusst. Sie bieten mannigfachen Komplikationen geduldig die Stirn und befolgen strikt das gegenseitige Abstandsgebot, das selbst in den Krankenzimmern gilt. Ihre zufällige Wiederbegegnung ist purer, auch verbaler Slapstick. Das Manische ist selten ein Mankel für Desplechin, er liebt den Elan des Exzentrischen. 

Für ihn besitzen beide Protagonisten Souveränität. Die Hassenden sind einander ebenbürtig. Hier sind sie wieder, die Grausamkeiten, die man einander lachend zufügt. Poupauds Angriffslust ist euphorisch, er kostet es aus, die Grenzen der Böswilligkeit immer neu zu verschieben. In diesem Tanz scheint Cotillard die Verletzbarere, die Sanftere zu sein. Sie kann nicht umhin, die Bücher zu lesen, in denen der Bruder unaufhörlich Öl ins Feuer gießt. Die gehören bestimmt dem Genre der Autofiktion an, es zürnt sie, dass ihr Nachname auf dem Umschlag steht: "Er hat mir meinen Namen gestohlen!" Sie mag zuweilen in Ohnmacht fallen, aber streitet mit offenem Visier. Auch ihr steht der familiäre Sarkasmus zu Gebot. Ohne sie wäre Louis nie Schriftsteller geworden.

Eingangs glaubt sie, nicht auf die Bühne zu können. Sie wird nicht auftreten in der Adaption von Joyce' »Die Toten«. Aber sie tut es dann doch, reicht ihrem Bühnenkollegen ermutigend die Hand, als ihn das Lampenfieber ergriffen hat. Ein sachtes Motiv der Unterstützung zieht sich durch den Film, das sich bei dem verhängnisvollen Unfall der Eltern bereits manifestierte. Desplechins Erzähltemperament ist dynamisch. Er glaubt nicht an die Unwiderruflichkeit, löst die erstarrten Verhältnisse auf - nicht um der Versöhnlichkeit willen, sondern, weil er der Energie seiner Charaktere Rechnung tragen will. Kein anderer Filmemacher der Gegenwart schildert so emphatisch wie er kathartische Prozesse. Das Uneingelöste erhält sein Recht und Vergeblichkeit nie das letzte Wort: ein unerbittlicher Erzähler.

 

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