Interview: Jeff Nichols über »The Bikeriders«
Am Set von »The Bikeriders« (2023). © Focus Features
Mr. Nichols, das Buch von Danny Lyons haben Sie nach eigener Aussage bereits vor zwanzig Jahren gelesen. Hat es solange gedauert, eine Produktionsfirma zu finden, hatten Sie Schwierigkeiten bei der Adaptation oder gibt es andere Gründe für diesen großen zeitlichen Abstand?
Ich war einfach noch nicht bereit dafür. Im Sommer 2008 schrieb ich »Take Shelter« und »Mud«, gab beide Drehbücher Michael Shannon und fragte ihn, welchen Film er zuerst machen wollte. Er meinte, »Take Shelter« – bei »Mud« ginge es doch bloß um ein paar Jungs, die herumrennen und in einem Boot fahren würden. Ich sagte, »Nein, dafür habe ich noch nicht die notwendigen Fähigkeiten als Regisseur und ich bin noch nicht berühmt genug, um Matthew McConaughey anzurufen.« Genau so war es mit »The Bikeriders« – was das Erzählerische anbelangt, hatte ich noch nicht die Fähigkeiten, die Geschichte in einzelne Szenen aufzulösen. Ich verstand, was Danny gemacht hatte, dass er mehr war als ein Fotograf, er war eigentlich ein Anthropologe. Was er zwischen seinen Fotos gemacht hatte, war, dass er mit seinen Interviews eine ganze Subkultur erfasst hatte. Als Filmemacher, der ein Interesse daran hat, die Zuschauer in eine Welt hineinzuziehen, die sie nicht kennen oder in der sie sich nicht wohlfühlen, brauche ich all diese Details, die Danny dabei zusammengetragen hat. Ich benötigte nur noch das Handlungsgerüst, in das ich sie einfügen konnte. Und dafür habe ich zwanzig Jahre gebraucht.
Bis auf Danny sind alle Figuren im Film Fiktionen?
Auch Danny ist eine Fiktion! Ich habe ihn gerade getroffen und er meinte, das Einzige, was ihm am Film nicht gefiele, sei die Tatsache, dass er viel schmutziger aussah als seine Filmfigur, wie sie Mike Faist verkörpert. Er ist wirklich stolz darauf, dass er selber ein Rebell war. Es gibt in dem Buch eine Kathy, die mit Benny verheiratet war, andere Charaktere im Film setzen sich zusammen aus mehreren realen Figuren. Es gab auch einen Brucie, aber der starb nicht so wie im Film. Ungefähr 75% des Dialogs im Film stammt direkt aus diesen Interviews, aber die Handlung stammt komplett von mir – diese Dreiecksliebesgeschichte gab es nicht. Kathy war mit Benny verheiratet, über die Gefühle von Mike weiß ich nichts, der ist im Buch eher eine Randfigur. Das Ganze hat einen hybriden Charakter: wenn ich Kathy heute treffen würde, könnte ich nicht zu ihr sagen, »Ich habe Deine Geschichte erzählt – ich habe benutzt, was du Danny im Sommer 1965 erzählt hast, aber den Rest habe ich erfunden.« Der Film erzählt eine Fiktion, die aber auf dem dokumentarischen Buch basiert.
An der Biker-Kultur habe ich eigentlich kein Interesse; was mich interessiert, sind die Menschen, die Danny interviewt hatte. Aber an einem Punkt erkannte ich, dass deren Fiktionalisierung mir die Freiheit geben würde, dem Buch näher zu kommen. Die Spannung zwischen den Fotografien und den Interviews ist wichtig. Die Fotografien sind schön und romantisch, die Interviews sind manchmal witzig, oft aber gemein. Um die Spannung zwischen beiden herauszuarbeiten, musste ich die Geschichte fiktionalisieren.
Austin Butler erinnert manchmal an James Dean. War das als eine Hommage konzipiert?
Ich würde sagen, es ist nicht der Look, sondern etwas, was ich während des Drehs entdeckte und das sich noch verstärkte während des Schnitts. Es hatte zu tun mit einer Fehleinschätzung meinerseits: wenn Kathy in den Interviews über den Mann spricht, den sie geheiratet hat, sagt sie, er sei emotional nicht ansprechbar gewesen – innerlich tot. Als ich Austin Butler inszenierte (und der ist so verdammt charmant, dauernd am lächeln), sagte ich zu ihm, »Du sollst innerlich tot sein, also hör' auf zu lächeln!« Jetzt haben wir eine Person, die so sympathisch ist, aber es ist, als hätte man ihr den Mund versiegelt – und genau das ist James Dean. »Wenn Sie sich »... denn sie wissen nicht, was sie tun« anschauen, merken sie, dass das ein Mensch ist, der nicht in der Lage ist, all das auszudrücken, was in seinem Innersten vor sich geht. In dieser Hinsicht war Austin Butler besser als sein Regisseur.
Sehen Sie »The Bikeriders« in einer Tradition mit Filmen wie »Der Wilde« und »Easy Rider«?
Ich denke, die haben beide ihre jeweilige Zeit repräsentiert. »Der Wilde« ist hochgradig ein Produkt des Studiosystems der fünfziger Jahre, denken Sie nur an Marlon Brando auf dem Motorrad vor einer Rückprojektion der Landstraße zu Beginn: das sieht heute geradezu absurd ist. Was dem Film allerdings gelungen ist, ist es, die Idee der Rebellion in klare Worte zu fassen, wenn Brandos Figur auf die Frage, wogegen er denn rebelliere, mit der Gegenfrage kontert: »Was haben Sie denn anzubieten?« Ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendwo auf der Welt einen Teenager gibt, der damit nicht übereinstimmt. Ich würde seinen Wert nicht unterschätzen, aber es ist doch ein sehr statischer Film. Wenn man 15 Jahre vorwärts springt zu »Easy Rider«, dann sieht man einen vollkommen anderen Film, der auch ganz andere Ursprünge hat. Ich wollte sichtbar machen, wo die Verbindung zwischen beiden liegt.
Sie zeigen uns hier eine Männerwelt, aber aus der Perspektive einer Frau. War Kathys Blickwinkel von Anfang an gesetzt?
Sie ist nun einmal die interessanteste Figur: sie horcht in sich hinein, selbstironisch, gelegentlich auch wütend – eine Person aus Fleisch und Blut, die sich damit auseinandersetzen muss, warum sie sich plötzlich inmitten dieser Biker-Welt befindet. Ich habe mich einfach in diese Figur verliebt. Wenn Sie Sich den Film aus der männlichen Perspektive vorstellen, wäre er einfach zu schwerfällig. Einer der Subtexte des Films ist ja der, dass Männer nicht in der Lage sind, sich auszudrücken. Wenn man das als Prämisse setzt, warum sollte dann einer von ihnen der Erzähler sein? Damit hätte man es äußerst schwer, zum Herz der Dinge vorzudringen. Auf der anderen Seite haben wir Kathy, bei der es so ist, dass man den Eindruck hat, während die spricht, versucht sie herauszubekommen, was mit ihr passiert – in Echtzeit.
Wie verhält sich Ihre eigene Perspektive zu der von Kathy? Sie blicken ja auf eine Vergangenheit, die ein halbes Jahrhundert zurückliegt.
Es gibt nur eine Szene, die ich aus dem Film herausgeschnitten habe, das war die einzige Szene, in der nur Danny zu sehen war und kein einziger Biker. Als wir die drehten, drehte sich Mike Faist, der Danny verkörpert, zu mir um und meinte: »Die Szene wird nie und nimmer im Film drin bleiben!« Ich erwiderte: »Absolut nicht! Dies ist meine Chance, durch die Figur von Danny aus meiner Perspektive klar zu machen, warum ich mit diesen Leuten rede, diesen Leuten, die wir manchmal abstoßend finden.« Das war dann die erste Szene, die ich herausschnitt – genauer gesagt, ich hatte sie nie drin in der Schnittfassung. Das war eine Szene, in der Danny sich in seiner Dunkelkammer mit einer College-Freundin unterhält, die ihn fragt, »Warum machst Du das?« Und er gab eine Antwort, die halb wahr und halb bösartig war. Ich merkte aber, dass das für die Erzählung absolut keine Rolle spielte. Wir wollten die Zuschauer nicht von diesen Leuten wegführen. Das ist Teil meines Arbeitsprozesses, herauszufinden, an welchem Punkt des Films meine Perspektive eine Rolle spielt – hier war sie nicht wichtig.
2007 gaben Sie Ihr Regiedebüt mit »Shotgun Stories«, »The Bikeriders« ist jetzt Ihr sechster Spielfilm – und in jedem spielte Michael Shannon mit.
Michael ist ein traditioneller Schauspieler, in dem Sinne, dass er kein Interesse hat, bestimmte Dialogzeilen nicht zu sprechen. Den Monolog, den er am Lagerfeuer hält, habe ich fast wörtlich aus dem Buch übernommen, diese Geschichte von dem jungen Mann, der sich in der Nacht vor der Musterung volllaufen lässt, am nächsten Morgen eine Alkoholfahne hat und durchfällt. Normalerweise reden wir nicht am Set, weil er einfach weiß, was gefordert ist. Hier aber kam er zu mir und meinte, »Jeff, Du hältst diese Szene für ziemlich komisch, nicht wahr?« – »Das stimmt.« – »Ich finde, sie ist überhaupt nicht komisch.« Dann trug er diesen Monolog vor, am Lagerfeuer, umringt von all den jungen Darstellern – und alle fangen an zu lachen. Als er den Typ vom Militär mit den Worten zitiert »Du bist ein unerwünschter Charakter – Wir wollen Dich nicht!« lacht wieder einer – Michael fixiert ihn mit einem Blick und schon herrscht Stille. Schauspieler können einfach ein gutes Drehbuch besser machen (ein schlechtes können sie nicht retten). Hier hat Michael mit einem Satz die Psychologie der Biker auf den Punkt gebracht: warum sie die Gesellschaft ablehnen und trotzdem verletzt sind, weil sie sich als Außenseiter fühlen.
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