Die Sonne wusste nicht, dass sie an einem besonderen Tag aufging

Als wir in Colleville-sur-mer ankamen, ging mir eine jener Fragen durch den Kopf, die man sich stellt, obwohl die Antwort nahe liegt. Warum nur, wunderte ich mich also, sind Gräber auf Soldatenfriedhöfen immer in so makelloser Ordnung aufgereiht? Auch die Gefallenen müssen strikt die militärische Aufstellung einhalten. Dabei würde Unordnung dem Chaos des Krieges doch viel eher gerecht.

Aber Ehrenfriedhöfe verleihen nicht der Realität des Krieges Ausdruck, sondern beschwören ein Ideal. Warum sonst sind die Grabkreuze in unbeflecktem Weiß gehalten? Wobei dies vielleicht nur für amerikanische Soldatenfriedhöfe gilt. Meinen amerikanischen Freunden Robert und Deborah gingen andere Fragen durch den Kopf, als wir den schnurgeraden Wegen durch die Gräberfelder folgten. Bob fand eine Antwort, als wir das andere Ende des Friedhofs erreichten. "Dass ehemalige Gegner sich hier friedlich begegnen", sagte er mit gebotenem Pathos, "ist der beste Beweis dafür, wie absurd der Krieg ist." Ähnlich wohlfeile Beteuerungen werden heute sicher auch bei den Festlichkeiten zum 80. Jahrestag der Invasion in der Normandie zu hören sein, wenn die Präsidenten der USA und Frankreichs sowie unser Bundeskanzler feierlich das Wort ergreifen. Es werden sogar noch Veteranen zugegen sein, die den 6. Juni 1944 erlebt haben. Allein 49 ehemalige GIs sind angereist, wie ich heute im Morgenmagazin erfuhr, die zwischen 98 und 104 Jahre alt geworden sind.

Der Besuch von Bob, Deborah und mir liegt 30 Jahre zurück. Er fand nicht pünktlich statt, sondern im September, als wir Gäste des Festivals in Deauville waren. Die Stadt war geschmückt mit Bannern, auf denen "Welcome to our Liberators" stand. Meinen deutschen Kollegen hatte ich vorsichtshalber geraten, wir sollten uns aus Holländer ausgeben. Aber das war nicht nötig, auch wir waren willkommen: im selben Geist, den Bob beschworen hatte. Die Invasionsstrände zu besuchen, war ein Ritual für amerikanische Festivalgäste, Paul Mazursky hatte Jahre zuvor ein Interview verschieben müssen, weil seine Familie unbedingt dorthin wollte. Aber wir Drei hatten es bis zu diesem Septembernachmittag noch nicht geschafft. Am Ende des Friedhofs lagen die Klippen von Omaha Beach, an dem die Invasionstruppen ihre größten Verluste erlitten. Natürlich kannten wir den Ort aus dem Kino, genauer: seinem Double in »Der längste Tag«, wo Robert Mitchum als Genreral Norman Cota das Blatt wendet, indem er den Kampfgeist seiner erschöpften Männer befeuert. Den berühmten Satz "Wer auf diesem Strand bleibt, ist entweder gefallen oder wird fallen" hatte in Wirklichkeit ein anderer General gesagt. Wir stiegen nicht herab, sondern schauten uns die Wracks der Landungsschiffe an, die man dort einfach hatte liegen lassen. Weshalb man sie Wind und Wetter überließ, ist eine Frage, auf die es womöglich auch eine naheliegende Antwort gibt. Sie legen schon eher Zeugnis vom Chaos ab. Inzwischen hat sich eine Initiative gegründet, die das wacker rostende Metall zum Weltkulturerbe erklären lassen will.

Der 50. Jahrestag war eine große Sache für das Festival des Amerikanischen Films. Deauville wollte sich im besten transatlantischen Licht zeigen. Man suchte emsig nach Veteranen. Sam Fuller war Stammgast des Festivals. Ebenso der Schauspieler Christian Marquand, der in »Der Längste Tag« als Korvettenkapitän die Stadt Ouistreham einnehmen soll – auch er wendet das Blatt -; seine Tanzkünste hatte ich oft bewundert. Da Bob einen gewissen Einfluss auf die amerikanische liaison der Festivalleitung hatte, schlug ich ihm im Vorfeld vor, den britischen Schauspieler Richard Todd einzuladen. Der war tatsächlich an der Invasion teilgenommen und zudem in zwei Filmen über sie mitgespielt. In D-Day, the Sixth of June“ (Zwischen Himmel und Hölle) sind er und Robert Taylor Rivalen um die Liebe der Rotkreuz-Schwester Dana Wynter, ziehen aber als Vorhut der Landungstruppen als Offiziere und Gentlemen an einem Strang. In »Der längste Tag« verkörpert er beinahe sich selbst – er gehört zu den Fallschirmjägern, die seiner Filmfigur rechtzeitig zur Hilfe eilen, um die Orne-Brücke zu halten. Beim Dreh trug er das selbe Barett, das er auch am 6. Juni 1944 trug. Trotz dieser glänzenden Empfehlungen stieß mein Vorschlag auf taube Ohren. Nein, das Festival sollte eine ganz und gar amerikanische Angelegenheit bleiben. Bei der offiziellen Gala mussten wir uns erheben, als das Sternenbanner gehisst wurde. Unter den Gästen befanden sich tatsächlich einige Weltkriegsveteranen, die es danach ins Filmgeschäft verschlagen hatte. Im Fahrstuhl meines Hotels begegnete ich dem Produzenten David Brown, auf dessen Konto u.a. »Der weiße Hai« geht. Er berichtete, dass er im Pazifik gekämpft hatte und wies stolz auf die Auszeichnungen, die er sich jetzt wieder an die Brust geheftet hatte.

Bei einem Dinner wurden meine deutschen Freunde und ich an einem Tisch platziert, an dem Mitarbeiter eines Verlages saßen, der auf die Geschichte der Normandie spezialisiert war. Ich kann mit einem Lektor ins Gespräch, dessen Fachgebiet eigentlich das Mittelalter war. Wir fachsimpelten eifrig, obwohl ich den Ablauf der Invasion recht eigentlich nur aus »Der längste Tag« kannte. Er musste ein gründlicher Lektor sein, denn er korrigierte mich unaufhörlich. Darryl F. Zanuck hatte eine halbe Kompanie historischer Berater hinzugezogen, räsonierte er, wie konnten sie da so viele faktische Fehler einschleichen? Die Eroberung von St-Mère Eglise? Stimmt einigermaßen im Film, aber General Vandervoort war 1944 fast 30 Jahre jünger als sein filmisches Alter ego John Wayne! Aber das Click-click, mit dem verstreuten Fallschirmjäger sich verständigen, ist doch unwiderstehlich, erwiderte ich. Das ließ er gelten. Beim Dessert versprach er, im nächsten Jahr mit mir eine Tour durch die Normandie zu unternehmen, bei der er mir die wahre Geschichte des längsten Tags erzählen würde. Dazu kam es leider nicht, denn 1994 war mein letztes Jahr in Deauville.

Im DFF in Frankfurt läuft derzeit eine leine Filkmreihe zum Jahrestag, ganz unironisch "Siegreiche Helden" betitelt. Ich schaute mir in Berlin vor ein paar Tagen »The Longest Day« wieder einmal an, diesmal mit dem Audiokommentar der Historikerin Mary Corey. Sie stellt sich als Spezialistin für Kriegsfilme vor und knüpft zahlreiche Verbindungen zu späteren Darstellungen des 6. Juni sowie weiterer Kriegsschauplätze. Sie findet, dass Zanucks Produktion historisch weitgehend korrekt ist. Das erstaunte mich, nimmt aber nicht wunder, weil ihre Perspektive weitgehend amerikanisch bleibt. Auf die französische Filmgeschichte blickt sie mit Scheuklappen (nein, Madeleine Renaud spielt nicht Jean-Louis Barraults Ehefrau in „Kinder des Olymp“) und erwähnt des allerersten Film über die Invasion überhaupt nicht: Jean Grémillons »Le Six juin à l’aube« von 1944, eine bestürzend lyrische Dokumentation der Verheerungen des Krieges, geradezu eine Elegie auf die von den Alliierten zerstörte Schönheit seiner normannischen Heimat. Folgen mochte ich ihr allerdings, als sie feststellt, die Kriegsführung des 20. träfe im Film auf eine französische Landschaft des 19. Jahrhunderts.

Ihr gefällt, dass nicht die unzähligen prominenten Darsteller die Stars des Films sind, sondern die Historie die Hauptrolle spielt. Er folge fast dokumentarisch der Chronologie der Ereignisse: It takes you through step by step. Es war die erste Invasion, deren Verlauf so stark vom Wetter abhing (unberechenbar in der Normandie, zumal im Juni). In keinem anderen Film gibt es so viel Landkarten zu sehen (und so viele Kristallleuchter wie in den Szenen mit den deutschen Offizieren). Corey unterscheidet zwischen den Totalen (die die Regisseure gut hinbekommen) und den Nahaufnahmen (in denen es lau zugeht, wenn die Figuren menscheln sollen). Strategie liegt dem Film mehr als das Fußvolk. Die leise Coda mit dem verletzten Fallschirmspringer Richard Burton und dem Deutschen, der die Stiefel auf den falschen Fuß trägt, ist allerdings großartig. 1962 kann der Film den Krieg noch in einer Unschuld zeigen, die nach Vietnam nicht mehr möglich ist. Er ist kein Chaos und keine Figur steckt in einem inneren Konflikt. Blut sieht man wenig, ein vornehmer Kriegsfilm sozusagen. Zeit für eine Pause, genug geschrieben für heute, denn der 6. Juni ist für mich noch in anderer Hinsicht ein wichtiges Datum: mein Geburtstag. Wer weiß, vielleicht höre ich mir später zur Feier des Tages noch einmal das Click-Click von John Wayne und seinen Männern an.

 

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