Am Anfang war das Feuer
Vermutlich gibt es wenige Dinge, die meinen Freund Binh in so großes Erstaunen versetzen wie die Entscheidung deutscher Verleiher. Er kann sich partout keinen Reim darauf machen, welche französischen Filme sie herausbringen und welche nicht. Mittlerweile ist er es gewohnt, dass ich regelmäßig über Wohlfühlkomödien schreibe, von denen die Kritik in Frankreich keinerlei Notiz nimmt.
Vor einiger Zeit jedoch ging es um Schwerwiegenderes. Aha, bei euch kommt »Vortex« von Gaspar Noe heraus, wunderte er sich, aber nicht »Notre-Dame brûle« von Jean-Jacques Annaud? Nun war es an mir, zu staunen, denn den hielt er tatsächlich für ein Meisterwerk. Ein wirklich guter Annaud-Film war für mich seit den 1970er Jahren eine Anomalie. Übrigens haben »Vortex« und »Notre-Dame in Flammen« einen Drehort gemeinsam. Der Dachgeschoss-Balkon, auf dem Francoise Lebrun und Dario Argento ihren Lebensabend genießen, taucht bei Annaud ebenfalls auf. Von dort ruft eine ältere Dame vergeblich die Feuerwehr zu Hilfe, als ihre Katze übers Dach entschwinden will.
Im Juni 2022 kam Annauds Fiom dann aber doch bei uns heraus. Heute Abend läuft er im ZDF, aus Anlass des fünfjährigen Jubiläums des Brandes, der große Teile des Pariser Wahrzeichens zerstörte. Auch damals war es ein Montag Abend; es gab zwei Schaltjahre zwischendrin. Emmanuel Macron, der sich seinerzeit mit den Gelbwesten herumschlug, hatte den Wiederaufbau des Monuments in fünf Jahren versprochen. Davon versteht er mehr als von sozialen Konflikten. Zu den Olympischen Spielen wird es nicht mehr gelingen, aber wohl zum Ende des Jahres.
Noch heute ist unklar, was Auslöser des Brandes war, entweder eine arglos weggeworfene Kippe oder einem Kurzschluss. Tatsächlich hebt der Vorspann mit der Großaufnahme eines Streichholzes an, mit dem eine Zigarette entzündet wird. Derer kommen noch einige vor bis die Katastrophe beginnt. Aber die Alternative will das Drehbuch von Thomas Bidegain und Annaud auch nicht kategorisch ausschließen. Es nähert sich minutiös den Ereignissen und schildert diese sodann mit ebensolcher Gründlichkeit. Das hat einen schönen Fluss. Die Zeitpunkte werden akribisch eingeblendet. Anfangs entfaltet der Film nachgerade umfassend, was sich üblicherweise in und um die Kathedrale tagtäglich ereignet: mehrsprachige Führungen in deren Innerem; Tauben, die in den Türmen nisten; Touristen auf dem Vorplatz; Gläubige, die sich zur Montagsmesse einfinden, die um 18:15 Uhr beginnt.
Zwei Minuten später, als der Organist anfängt und eine Ave Marie in vollendetem Wohlklang ertönt, registriert ein neu eingestellter Wachmann (als Raucher eingeführt, aber unverdächtig) einen Feueralarm im Dach der Sakristei. Der lässt sich zunächst nicht verifizieren - das Alarmsystem ist altersschwach -, aber vorsichtshalber werden die Teilnehmer des Gottesdienstes evakuiert. Bald schleicht sich eine verhängnisvolle Ungleichzeitigkeit in die Chronik der Geschehnisse. Rauch wird sichtbar, der sogar bereits aus den USA gemeldet wird, während der Alarm bei der Feuerwehr erst um 18:45 Uhr eingeht. Zuvor entdecken auch Touristen und sonstige Schaulustige erste Schwaden. Die nächste Wache liegt nur wenige Minuten entfernt. Die erste Mannschaft bricht in Windeseile auf, sie kann in wenigen Minuten vor Ort sein. Die in unmittelbarer Nähe liegenden Hydranten sind bekannt. Der erste Löschzug stößt jedoch auf Hindernisse am Seineufer. Ohnehin herrscht Feierabendverkehr, der befehlshabende Offizier ewig steckt im Stau vor der Place de la Concorde.
So geht es weiter im Film, Minute für Minute, bei genauer Berücksichtigung der Pariser Topographie, die viele Einbahnstraßen aufweist. Die 19-Uhr.Nachrichten berichten bereits, während die Leitung der Feuerwehrbrigade noch feststeckt. Die Messe wurde nach der ersten Entwarnung fortgesetzt: Jetzt aber wird erneut evakuiert, nur die kleine Chloe bleibt zurück, weil sie unbedingt noch eine Kerze entzünden will. Ihre Mutter findet sie rechtzeitig. In Versailles erhält Laurent Prades, der als Kurator für die Kunstschätze in Notre-Dame verantwortlich ist, eine Textnachricht und eilt zurück nach Paris. Der Vorortzug saust ihm vor der Nase weg. Derweil sagt Emmanuel Macron eine geplante Ansprache ab und will sich unverzüglich zur Kathedrale begeben.
In seiner ersten halben Stunde zurrt der Film alle Entscheidungsträger und sonstige Verantwortliche zusammen. Das hat ungeheure Dringlichkeit, aber zu einem handelsüblichen Katastrophenfilm will „Notre-Dame in Flammen“ noch nicht werden. Das Drehbuch bewahrt sich seine Umsicht. Bidegain ist als Co-Autor von Jacques Audiard in eine aufgeklärte Schule gegangen. Man hegt keinen Zweifel, dass die Abläufe im Vorgehen der Feuerwehr stimmen, authentisch sind. Annaud montiert im Splitscreen-Verfahren seine Aufnahmen mit denen von Amateuren, Nachrichtenbildern und den Aufzeichnungen der Feuerwehr. Stets behält man den Überblick, ohne dass es fingiert dokumentarisch wirkt. Die Feuerwehrleute nähern sich dem Brandherd, der sich inzwischen vervielfacht hat. Aus einem Brandloch in der Decke fallen Funken in einer traurig malerischen Säule auf das Kirchenschiff herab. Die Feuerwehrleute haben zahlreiche Gefahren zu gewärtigen und ihre Schläuche haben nicht ausreichend Druck, da die Stegleitungen angerostet und porös sind. Die Menge des Löschwassers bedroht die Stabilität des Gebäudes. Das geschmolzene Blei des Daches fließt aus den Mündern der Chimären, die wir als Ornamente der Fassade kennen; nicht zuletzt aus Hunderten von Filmen.
Wir sind wirklich dabei, während all das geschieht. Wir gewinnen einen durchdringenden Eindruck vom Prozedere. Es gilt, die Hierarchien in der Befehlskette der Feuerwehr zu beachten. Ihr Vokabular ist militärisch. Es grbt Angriffspunkte. Was in der deutschen Synchronfassung „Brandamtsrat“ heißt, nennt sich im Französischen einfach "capitain". Die Leitungsebene haben Generäle inne. Die Bausubstanz, die seit 850 Jahren existiert, ist vielfach bedroht. Da keine Menschenleben mehr auf dem Spiel stehen (mit Ausnahme der Feuerwehrleute), müssen die Kunstschätze in Notre-Dame geborgen werden. Der wichtigste ist die Dornenkrone Christi. Ein Feuerwehrmann rettet sie, aber es ist nur eine Kopie. Das Original ist in einem Safe aufbewahrt. Laurent Prades kennt den Code, aber er kommt vorerst nicht durch die Polizeiabsperrung. Es gelingt ihm dennoch, aber dann ist er sich nicht sicher. Das Netz ist überlastet, aber eine SMS kommt letztlich durch. Für die Spezialeffekte gab es einen wohlverdienten César.
Einer der Geldgeber des Films ist Francois Pinault, der einen Teil seines Multimilliardenvermögens für dem Wiederaufbau der Kathedrale spendete. Der Film ist durchaus eine Staatsangelegenheit. Er folgt einer republikanischen (im französischen Sinne) Ordnung, die eigentlich laizistisch sein müsste. Aber nach Dreivierteln ändert sich das. In der Filmmusik ertönen Chöre. Annauds Film hört ein wenig auf, das Meisterwerk zu sein, das Binh pries. Aber das Pathos ist dosiert. Der Ehrenkodex der Feuerwehr wird beschworen. Das »Amazing Grace«, das auf der Tonspur zu hören ist, stammt von Gläubigen, die am anderen Seineufer mitfiebern. Es ist diegetisch - und Annaud eben ein smarter Filmemacher. Dass der Madonna im Kirchgenschiff eine Träne aus Löschwasser die Wange herunter rinnt, hat Annaud uns nicht ersparen wollen.
Mit Taschenspielertricks arbeitet Bidegains Drehbuch nach wie vor nicht. Seine tiefe Ehrfurcht für das Kulturerbe war keine Prämisse, sondern sie entwickelte sich. Im Finale geht es darum, die Glocke von Notre-Dame zu retten, die schon Quasimodo bei Victor Hugo faszinierte. Ein Feuerwehrmann hat entdeckt, dass der Nordturm noch stabil ist. Ein Himmelfahrtskommando soll gebildet werden. Der "General" hat darauf beharrt, dass seine Männer ihr Leben für andere Menschen riskieren, nicht für Steine. Das war nicht die Antwort, die Macron erhoffte. Es finden sich dennoch Freiwillige genug, die in die Flammen gehen. Der Film hat einen wirklich schönen Begriff von Heldentum. Seine Katharsis hat er sich wohl verdient. Die Kerze, die Chloe angezündet hat, brennt noch.
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