Heimat
Das Wunder traf doch nicht ein, weder das österliche noch das medizinische, auf das wir gehofft hatten. Heiko wachte aus dem Koma nicht mehr auf. Die Pläne, die wir geschmiedet hatten, gehören nicht mehr der Zukunft an. Es waren keine großen Projekte, aber dieser Eintrag wird ohnehin von den Freuden des Unerheblichen handeln.
Wir hatten uns beispielsweise vorgenommen, unsere Kenntnisse des finnischen Kinos zu erweitern. Heiko liebte Aki Kaurismäki, deshalb schlug ich vor, einige Melodramen von Teuvo Tullio anzuschauen, die ihn inspiriert hatten. Und seit wir Yasujiro Ozus frühe Gangsterfilme entdeckt hatten, war er auf dessen Spätwerk neugierig geworden. Gestern fiel mir auf, dass er die Blu-ray von »Once upon a time in Hollywood« für uns herausgelegt hatte, den ich zur Vorbereitung einer Geschichte über Stuntmen wiedersehen wollte. Auf seine Filmsammlung und sein Gedächtnis war Verlass.
Wir lernten uns in der 5. Klasse kennen und kamen einander danach nie mehr abhanden. Unsere Freundschaft nahm rasch Fahrt auf, als wir merkten, wie groß unsere Filmbegeisterung war. Seinerzeit gab es nur drei Fernsehsender, aber auf denen gab es viel Historisches zu sehen und nicht selten auch Gegenwartskino. Wir hatten Glück, denn die 70er waren ein gutes Kinojahrzehnt. Heiko war gespannt auf »Rollerball«, der im Herforder Filmstudio angekündigt war und lange auf sich warten ließ. In der Zwischenzeit nahmen wir mit einem anderen James-Caan-Film vorlieb, »Die Killer-Elite«. Damit nahm seine Liebe zu Sam Peckinpah ihren Anfang. In den großen Ferien dachten wir nicht an Urlaub, sondern fuhren mit dem Zug nach Bielefeld, wo die Kamera und das Astoria ausgiebige Sommerprogramme im täglichen Wechsel spielten. So erlebten wir »Die Brücke am Kwai«, »Butch Cassidy und Sundance Kid« auf der großen Leinwand und lachten uns scheckig über die Msarx Brothers, Mel Brooks und »Extrablatt« von Billy Wilder. Wir konnten Filme aus jüngerer Zeit nachholen, für die wir noch zu jung gewesen waren, »Chinatown« etwa und »Der weiße Hai«. Den mussten wir in der ersten Reihe sehen, weil ich hatte meine Brille vergessen hatte. Spielberg war fortan eine feste Größe für ihn. Das Movie am Bahnhof zeigte Spätprogramme mit französischen Krimis; Jean-Pierre Melville entdeckten wir aber erst danach.
Diese ersten Eindrücke waren unauslöschlich. Sie prägten uns. Dialogsätze wurden zu Losungsworten, zu einer Geheimsprache, die nur wir beide verstanden. Das fing mit unserer Begrüßung "Howdy, Partner" an, die in unzähligen Western vorkam, wahrscheinlich aber doch aus "The Party" von Blake Edwards stammte. Ohnhehin entwickelten wir eine ausgesprochene Vorliebe für Trivialitäten. "Dann liegst du nachts wach und machst dir deine Gedanken." aus »Double Indemnity« war einer unserer Favoriten, ebenso wie Martin Balsams Stoßseufzer "Was wir heute wieder für Stoff haben!" während der Redaktionskonferenz in »All The President's Men«. Für Jack Nicholsons "Sie hatten sich schon eine angezündet, Mrs Mulwray" hatten wir zwar auch als spätere Zigarrenliebhaber wenig Verwendung, mochten es aber trotzdem. Bei Melville wurden wir sehr oft fündig. "Ich geb' ihn Ihnen" aus »Der Chef« war ein prächtiger Einstieg in Telefongespräche. Was die "eigentliche Aufgabe" war, der sich Delon widmen wollte, blieb uns ein Rätsel, diente aber zuverlässig als Aufforderung, nach dem Essen bei einer Zigarre zu diskutieren. Mit Dialogen aus Filmen von Howards Hawks konnten wir lässig ganze Gespräche bestreiten. Einer kommt mir in diesen Tagen wiederholt in den Sinn. Als Walter Brennan sich in »Red River« zwischen der alten Ordnung (John Wayne als Rinderbaron Thomas Dunson) und der neuen (Montgomery Clift) entscheiden soll, sagt er: "Dunson und ich sind eben Dunson und ich."
Es waren Zwiegesprächen, die kein Ende fanden, obwohl wir unterschiedliche Lebenswege einschlugen. Ich ging zum Studium nach Berlin und Heiko hielt daheim die Stellung. Dass ich als Trauzeuge bei seiner Heirat mit Elke beinahe zu spät kam, habe ich mir nie verziehen. Immerhin weiß ich, dass ihre Ehe ein verdientes Glück für beide war. Der Beruf des Industriekaufmanns in einer Firma für Küchenmöbel erfüllte ihn nicht, überforderte ihn aber irgendwann. Seine eigentliche Aufgabe lag im Privaten. Ihm lag an der Geselligkeit im Freundesakreis, er kümmerte sich um seine Mutter sowie den ehedem unternehmungslustigen Papagei Jens Wenn man ihn brauchte, war er da. Als mein Vater plötzlich starb, brach er sofort auf, ohne seinen Frühstückskaffee auszutrinken. Ich nannte das gern unseren Melville-Moment.
Er konnte sehr gut zeichnen. Das war ein Talent, dass er bedauerlicherweise nicht weiterverfolgte. Vergeblich war es nicht. David Raksin schätzte das Porträt, das er einmal von ihm gezeichnet hatte. Es kommt in einer Dokumentation vor, die ich für den WDR über den Komponisten von »Laura« und anderen großen Filmmusiken machte. Ohne Heikos Kenntnisse hätte ich sie nicht hinbekommen. Dass ich ihm nicht im Abspann dankte, ist ein Versäumnis, das mir noch heute schwer im Magen liegt. Er selbst wäre nie auf die Idee gekommen; es gebrach ihm an Geltungssucht. Wichtiger war ihm, dass die Zeichnung seine Freundschaft mit Raksin besiegelte. Wenn er mit Elke nach Los Angeles reiste, trafen sie sich regelmäßig zum Mittagessen.
Heiko mochte Comics, ganz besonders »Comanche« von Herman Huppen. Wie der Belgier Schatten ausführte, imponierte ihm immens. Zuweilen überlegte ich, ob wir nicht einmal gemeinsam an einem Album arbeiten sollte, er als Zeichner und ich als Szenarist. Aber daraus wurde nichts. Es fehlte ihm mitunter an Antrieb, womöglich aus Bescheidenheit. Aber er ließ sich mitnehmen, auf Reisen (auch kulinarische) und zu Exkursionen in entlegenere Terrains der Filmgeschichte. Insgeheim hätte ihm wohl der klassische Hollywood-Kanon genügt, er wurde Aldrich, Boetticher, Brooks, Ford, Fuller, Hawks, Anthony Mann, Preminger, Ray, und Walsh nie leid. Alles in allem ein maskulines Kino: über lakonische Helden mit ehernem Moralkodex, die loyal sind und Geheimnisse wahren können.. Heiko war wertkonservativ, aber schloss durchaus zu den nachfolgenden Generationen auf, sammelte William Friedkin, John Milius, Lawrence Kasdan und Michael Mann, später Tim Burton und Richard Linklater.
Der Raucherraum des Hauses, in dem Elke und er wohnten, war drapiert mit Plakaten zu Filmen und Retrospektiven, Szenenfotos und Porträts seiner Säulenheiligen. Dort verbrachten wir lange Abende, schauten uns unsere Klassiker wieder an und lernte neue kennen. In den letzten Jahren trietzte ich ihn mit dem Vorhaben, Lücken zu schließen, nicht zuletzt im britischen Kino, das für ihn zuvor nur aus David Lean und Hitchcock bestand. Wir nahmen das ziemlich systematisch in Angriff und schauten uns an, was die Filmbibliothek der AGB hergab an Filmen von Anthony Asquith, Bryan Forbes, Basil Dearden und Terence Fisher. Das ließ sich spielend im japanischen Kino fortsetzen, das eben nicht nur Kurosawa hervorgebracht hatte, sondern auch Kon Ichikawa und Masahiro Shinoda. Masaki Kobayashi faszinierte ihn besonders. Die größte Kehrtwende unserer Vorlieben betraf Sergio Leone und Ennio Morricone, mit denen wir früher wenig anfangen konnten. Heiko holte sie gründlicher nach als ich.
Der Raucherraum wurde zu seinem Rückzugsort. Täglich studierte er die IMDb, den "Guardian" und ein paar andere Seiten. Jeden Morgen schaute er nach, ob ich einen neuen Blog geschrieben hatte. Meist überprüfte er erst einmal, wie lang die Einträge waren. Wenn ich eine Weile pausierte mit dem Schreiben, hatte er Sorge, ob ich das Pensum bis zum Monatsende noch erfüllen könnte. Das wurde für mich ein sportlicher Ansporn. Schlimme Fehler wollte er sofort korrigiert wissen. Bisweilen schlug er mir Themen vor, wofür ich zumal während der Pandemie dankbar war. Er haderte mit den Entwicklungen, die sein geliebtes Medium nahm. Der Siegeszug von Netflix & Co erfüllte ihn mit tiefem Misstrauen. Er fürchtete, dass er die neuen Filme von Guillermo del Toro nie zu sehen bekäme. Ins Kino ging er in den letzten Jahren nur selten. Ich war verblüfft, dass er unbedingt »The Irishman« sehen wollte. Doch, er konnte mich immer noch überraschen nach all den Jahren.
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