Handwerk und Verantwortung

„Ein Verriss ist etwas ganz Unbrauchbares“, sagte Jeanine Meerapfel energisch. Die sturmerprobte Regisseurin ist überzeugt, dass er niemandem nutzt: weder dem Kritiker noch der Leserschaft - und erst recht nicht dem Film. Wer nun erwartete, auf dem Podium würde ein heftiger Streit ausbrechen, sah sich getäuscht.

Dabei hatte alle Fünf, die auf ihm saßen, eine prononcierte Meinung zu der Wortmeldung aus dem Publikum – eine Stimme, der in der publizistischen Landschaft heutzutage die Schmähkritik doch oft sehr fehlte. Meerapfel argumentierte aus der bitteren Erfahrung, dass ein einziger Verriss bereits das Todesurteil über einen Film fällen kann. Ihren Mitdiskutanten, denen an diesem Punkt durchaus die Täterrolle hätte zufallen können, widersprachen nicht. Im Kern rückten sie die Lust am vernichtenden Urteil in den Bereich der Jugendsünde. Verena Lueken (Autorin bei der FAZ) sprach gar von einer gewissen Scham, diese früher um einer Pointe willen oder zur Schärfung des eigenen Profils zuweilen begangen zu haben. Rüdiger Suchsland (umtriebiger freier Filmjournalist) gab hingegen zu bedenken, dass die lauen Texte sich am leichtesten schrieben. Auf eine Formel konnte man sich einigen: „Wir müssen den Film entfalten.“ Der Moderator des Gesprächs, Andreas Kilb (ebenfalls FAZ), konnte es mit der Genugtuung ausklingen lassen, das Stichwort habe die Runde noch einmal sehr belebt.

Für mich war das eine tröstliche Erkenntnis, die sich am nächsten Abend (siehe gestrigen Eintrag) wiederholte. Bisher stand ich in dem Glauben, zum Schreiben eines Verrisses bedürfe es eines besonderen Talents, über das ich nicht ausreichend verfüge. Der finale Konsens unterstrich aber deutlich, dass es am Dienstagabend in der Berliner Akademie der Künste sehr wohl um die Frage nach der Verantwortung der Filmkritik ging. Jeanine Meerapfel hatte als Akademiepräsidentin zu dem Gespräch „Filmkritik und Kinokunst“ eingeladen. Im Vorfeld der Berlinale über Filmthemen zu diskutieren, hat seit einigen Jahren Tradition in ihrem Haus. 2023 etwa wurde hier über „Content versus Film“ debattiert. Für Filmjournalisten fiel die Veranstaltung in diesem Jahr anscheinend auf keinen guten Termin, viele befanden sich längst im Klammergriff des zwei Tage darauf beginnenden Festivals. Im Publikum entdeckte ich tatsächlich nur ein, zwei Kollegen – dafür aber etliche gestandene Akademiemitglieder, darunter einige Regisseure sowie Schauspielerinnen und Schauspieler.

Auch an diesem Abend ging es um Grundlegendes. Ich hätte den Eintragtausch von gestern mithin vielleicht gar nicht vornehmen müssen. Es gab im Prinzip viel zu diskutieren, die Transformation des Kinos und seines Orte,s die medialen Verwerfungen, den Reichweitenverlust klassischer Instanzen der Kritik etc. Lange aufhalten wollte sich damit offenbar niemand. Das war in meinen Augen ein Segen, denn statt dessen ging es im Wesentlichen um Probleme der Ästhetik und des Berufsethos

Zu Beginn erinnerte Andreas Kilb daran, dass Film und Kritik gewissermaßen zur selben Zeit geboren wurden und sich in den letzten 125 Jahren (na, bald 130) parallel entwickelt hätten. Diese Idee lag fortan wie ein Fluch über der Veranstaltung, der allerdings relativ machtlos war. Dass sich daraus eine Allianz ergeben sollte, bestritt Verena Lueken in ihrem knappen Impulsreferat vehement. Man sitzt mitnichten im gleichen Boot, aber sollte ein Gegenüber sein. Die durchs Podium geisternde Frage, ob die Kritik den Film retten sollte, verneinte sie ebenso kategorisch: Vor wem? Vor was? Wenn überhaupt, kann sich das Kino gut selbst retten, das hat „Barbenheimer“ im letzten Sommer gezeigt und beweist jetzt gerade die Dichte attraktiver Filme („Poor Things“ und viele mehr), die lebhafte Debatten auslösen. Mit Blick auf die eigene Arbeitspraxis schloss sie: „Das Uninteressanteste war für mich immer die Wertung.“ Das war ein schöner Paukenschlag, nicht ganz so laut wie bei Richard Strauss, aber mit viel Nachhall.

Der Fünfte im Bunde, Philipp Stadelmeier (u.a. Autor für die SZ), unterschied zwei Arten von Kritik. Einerseits gibt es das bloße Geschmacksurteil, auch die Sehempfehlung, mit der sich die Kritik zum Marketingfortsatz mache. Die andere, sich als intellektuell verstehende Kritik schafft Kontexte, sie denkt intensiv über Bilder und Töne nach, in ihren Denkprozessen operiert sie nahe am Film und den Werken, die ihn umgeben, die sich zu ihm fügen. Das Geschmacksurteil sähe er lieber ersetzt durch die Subjektivität des Kritikers, die sich im Dialog erweist, in der Auseinandersetzung mit der Subjektivität der Filmemacher. Ganz so falsch sei es nicht, einen Film zu „schmecken“, lautete ein Einwand (von Rüdiger Suchsland, wenn ich nicht irre – es ging so schnell im Schlagabtausch, da kam ich beim Notieren nicht immer nach), das Kulinarische hat sein Recht, die Kritik darf Appetit machen. Den eigenen Affekte darf sich die Kritik sehr wohl anvertrauen, wenn sie aus Leidenschaft entsteht. Eine Zwischenbilanz könnte also lauten: Ein Film muss nicht beurteilt, sondern soll verstanden werden.

Jeanine Meerapfel vermisst die Leidenschaft (besagte oder eine andere?) oft und fordert sie ein. Die Kurzatmigkeit der Kritik, ihr Mangel an Geduld machen ihr Sorge - die simple Vergabe von Punkten verflacht die Kunst und verflacht das Schreiben: Film ist nicht Fußball. Vielmehr soll die Kritik einen Zusammenhang des Films mit der Gesellschaft herausarbeiten, in der er entsteht, durchaus auf mäandernden Wegen, die Türen öffnen. Sie erhofft sich von ihr ein Panorama.

Andreas Kilb ließ nicht locker, was die Frage der Allianz von beiden Lagern anging. Hat die deutsche Kritik den deutschen Film nicht irgendwann im Stich gelassen, ja verraten? Sie hat sich wohl gelangweilt, meinte Meerapfel listig, und ohnehin haben sich die Kritiker der 1970er, die Wiegands, die Schüttes, die Jansens, nur für Regisseure interessiert und nicht für Regisseurinnen. Kilbs Frage führte recht eigentlich in eine Sackgasse. Ich verstehe seine historische Neugier, wir sind bestimmt mit der gleichen Kritikergeneration aufgewachsen, die meinungsstark war und selbstgewiss in ihrer Ideologiekritik. Aber zurücksehnen muss man sich nach dieser großen Zeit nicht, wo es um eine inhaltistische Abrechnung mit dem Kino ging. Jedoch saß neben mir ein Regisseur, der gern einen Kontrakt zwischen Kritik und deutschem Kino geschlossen sähe. Hätten die Filme sonst überhaupt noch eine Chance? Und woher nehmen Kritiker ihre Überheblichkeit, die sich nicht um die auch ökonomische Not von Filmemachern und Produzenten schert?

Die Diskussion indes fand rasch aus der Sackgasse hinaus, da Verena Lueken intervenierte: Wenn Kritiker überhaupt etwas verraten können, dann ihr Handwerk und ihre Verantwortung. Es gibt indes historische Beispiele für bedeutende Allianzen: der Neue Deutsche Film ging wesentlich aus der Filmkritik hervor (auch im buchstäblichen Sinne aus der gleichnamigen, einflussreichen Zeitschrift). Philipp Stadelmeier verwies auf Frankreich, wo die „Cahiers du cinéma“ die Nouvelle Vague herbei schrieben.

Wenn die Kritik nicht an die Loyalität zu Filmemachern gebunden ist, kann sie doch Partei ergreifen für das Kino. Sie hat kein anderes Mandat, das so nobel ist. Es zeitigt formale Konsequenzen. Ein Film diktiert, wie wir über ihn schreiben (Suchsland), er legt nahe, in welchem Ton wir dies tun (Lueken). Denkt eine gute Filmkritik die filmischen Mittel immer mit? Diese Frage stieß auf reges Interesse im Publikum. Verena Lueken hält es mit der von Paolo Mereghetti gefürchteten Pauline Kael, für die ein Film in seiner Gesamtheit interessanter ist als in seinen Einzelteilen. Ich denke, wir haben da großen Spielraum in unserem Beruf und eine wichtige Aufgabe. Das saß mir an diesem Abend noch in den Knochen, denn am Morgen vor der Diskussion schrieb ich für das Märzheft von „epd Film“ über „The Zone of Interest“. Der stellt in dieser Hinsicht ganz besondere Anforderungen – beispielsweise, seine Ästhetik als Widerstand zu begreifen. Insofern hatte für mich ein Wort Jeanine Meerapfels großes Gewicht am Ende des Abends. Sie empfindet das Geheimnis der Form eines Films als Verlockung. Also flugs an die Arbeit und nicht entzaubern, sondern ergründen.

 

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