Gruppenbild mit Dame

11455-birdman_5-micheal_keaton_edward_norton.jpg

Das 71. Filmfestival von Venedig: jede Menge Kriegs- und Krisenfilme

Mit der Stadt Venedig hat das hier 1932 gegründete Filmfestival eines gemein: eine Vergangenheit, die an Glanz alles übertrifft, was die Zukunft wahrscheinlich noch bringt. Ritueller Schwanengesang gehört deshalb zum Festivalbetrieb wie die Fotografen zum Roten Teppich. Nur woran man den Niedergang erkennt, das verändert sich ständig: Vor wenigen Jahren waren es die Massen, die das Festival überschwemmten und seiner Exklusivität beraubten, nun ist es der Schwund der professionellen Besucher, der angeblich seinen A-Status gefährdet. Wurde früher die Dominanz der Amerikaner beklagt, nahmen nun viele die Abwesenheit von David Finchers Gone Girl und Paul Thomas Andersons Inherent Vice, zwei der »heißesten« Titel der Herbstsaison, als Alarmzeichen dafür, dass die Mostra fortan zur Bedeutungslosigkeit verdammt sei.

Aber genauso wie die Stadt Venedig versteht auch das Festival sich bestens darauf, den Geruch des Niedergangs wieder in Attraktion umzuwandeln. Als Alberto Barbera in der Nachfolge von Marco Müller vor drei Jahren die Leitung übernahm, begrub er unfeierlich die grandiosen Träume von einem neuen Palast und verschlankte das Filmprogramm in radikaler Weise. Nicht dass ihm viel anderes übrig geblieben wäre. Aber es zeigt sich nun, dass Barbera den Zwang zum Sparen auch dazu nutzte, neue Freiräume zu schaffen. Wo das Festival vor ein paar Jahren aus allen Nähten platzte, mit Nebenreihen und Sondervorführungen und sich drängenden Massen, herrscht nun ein eher beschauliches Treiben. Statt einer Endlosfolge von Stars auf dem roten Teppich zuzujubeln, geht es nun wieder vermehrt darum, Filme zu entdecken. Im Guten wie im Schlechten, vor allem aber: aus aller Welt. Anders nämlich als Cannes, das sich mehr und mehr zum Club der etablierten Regisseure entwickelt, ist Venedig stets für allerlei Überraschungen gut.

Eine davon war in diesem Jahr der Auftaktfilm, die Komödie Birdman des Mexikaners Alejandro Gonzáles Iñárritu. Vom Regisseur von Babel hatte niemand die Sorte Komödie erwartet, bei der man sich auf die Schenkel klopft. Und so beeindruckte Birdman, in dem der 62-jährige Michael Keaton einen alternden Schauspieler in der Krise spielt, auch weniger mit Pointendichte als vielmehr durch die Dichte seiner Beschreibung. Gedreht wie in einer einzigen Einstellung – die wenigen »Schnitte« verbergen sich hinter auf den Himmel gerichteten Zeitrafferaufnahmen – spult der Film wenige Tage im Leben des ehemaligen Superheldendarstellers ab, der nun mit einer Broadway-Inszenierung noch einmal zeigen will, was in ihm steckt. Mit der Kombination aus technischer Meisterschaft und einem Ensemble von Schauspielern (darunter Edward Norton, Emma Stone und Zach Galifianakis), das sich der Herausforderung der langen Einstellungen mit großem Engagement stellt, ist Iñárritu ein Film gelungen, der wie seine Hauptfigur um die eigene Selbstgefälligkeit zu wissen scheint – Stichwort »Luxusprobleme« –, den Zuschauer aber mit sehr menschlichem Sarkasmus gewinnt.

Eine Entdeckung ganz anderer Art war Shinya Tsukamotos Film Fires on the Plain. Der Japaner, bislang eher als Genreregisseur (Tetsuo) bekannt, erzählt darin von der gescheiterten japanischen Invasion auf den Philippinen im Zweiten Weltkrieg. Wobei »erzählt« der falsche Begriff ist. Den Abschreckungshorror des Kriegsfilmgenres auf eine neue Stufe stellend, stürzt der Film den Zuschauer in einen 90-minütigen Alptraum von Kugelhagel, Hunger und Verwesung, von Blut, Gier und Leichenbergen. Klassische Kriegsfilmtopoi wie Tapferkeit und Kameraderie fehlen ganz; der Film zeigt das Überleben seines Helden (vom Regisseur selbst gespielt), eines japanischen Soldaten, als Ergebnis einer Reihe von grausamen, traumatischen Zufällen – und das, ohne je aus ihm, der ja zu den Tätern, den japanischen Aggressoren gehört, ein des Mitleids würdiges Opfer machen zu wollen. Eine Wirkung, für die ihn auch die in diesem Jahr in der Jury vertretene chinesische Schauspielerin Joan Chen (Twin Peaks) würdigte: Die Japaner hätten die von ihnen begangenen Untaten im Zweiten Weltkrieg nie anerkannt oder sich gar dafür entschuldigt, meinte Chen auf der Abschlusspressekonferenz, Tsukamotos Film aber habe sie tief berührt.

Wie überhaupt der Krieg in diesem Jahr einen eigenen thematischen Schwerpunkt im Programm bildete. Zwei der Filme konnten die Erwartungen nicht erfüllen: Fatih Akins The Cut über den Völkermord an den Armeniern kam mit seinem Willen zur großen Geste genauso wenig an wie Andrew Niccol (Gattaca) mit dem Ansinnen, in Good Kill das Problem des Drohnensteuerers als in Alkoholismus und Eheunglück mündendes Gewissensdrama darzustellen. Der Franzose David Oelhoffen jedoch überraschte positiv mit seinem zweiten Spielfilm Loin des hommes, in dem er nach einer Albert-Camus-Vorlage die Wirren des Algerienkonflikts in der Form eines Western-Männerdramas neu erfahrbar macht. Wobei vor allem Viggo Mortensen – sowohl fließend französisch als auch arabisch parlierend – als Mann zwischen den Fronten beeindruckte.

Den nachhaltigsten Eindruck aber hinterließ Joshua Oppenheimer mit seinem zweiten Dokumentarfilm zum Thema Genozid in Indonesien, The Look of Silence, dessen Auszeichnung mit dem Großen Preis der Jury den größten Beifall des Festivals fand. Oppenheimer setzt darin unmittelbar am Vorgängerfilm, seinem oscarnominierten Act of Killing, an. Diesmal lässt er den nachgeborenen Bruder eines der Opfer die Täter befragen, die heute sämtlich angesehene alte Männer sind. Trotz seines grausamen Themas ist The Look of Silence ein ungeheuer sanfter Film, der einen fast zärtlich zu nennenden Blick auf die alten Eltern des Opfers wirft und dabei den Horror, den sie erlitten haben, um so deutlicher sichtbar macht. Sehr viel weniger »Show« als noch der Vorgängerfilm, liefert auch der neue Film keine Beichten oder Schuldbekenntnisse, sondern rekonstruiert eindringlich die Unerträglichkeit dieser sühnelosen Situation, in der die Täter noch immer ihre Opfer verhöhnen und diese noch immer ihre Namen lieber anonym halten wollen. Jurymitglied Tim Roth verglich die Wirkung des Films mit dem Erlebnis einer Geburt und beschrieb damit exzellent dessen elementare, emotionale Wucht.

Zu den großen Festivallieblingen schon vor seiner eigentlichen Premiere zählte der neue Film des Schweden Roy Andersson, A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence (Eine Taube saß auf einem Ast und sinnierte übers Dasein). Der 71-Jährige macht darin im Grunde dasselbe, wofür er vor 14 Jahren mit Songs From The Second Floor bekannt wurde: Er stellt eine Reihe von hochartifiziell inszenierten, aber stets launigen Szenen zusammen, die in der Summe etwas über das Menschsein aussagen. Ein absurdistischer Bilderreigen, in dem auch mal gelacht werden darf: etwa über zwei Vertreter der Unterhaltungsindustrie, die erfolglos versuchen, »Spaßprodukte« wie Lachsäcke und Vampirzähne an den Mann zu bringen. Oder über die Kassiererin eines Flughafenbuffets, die das Bier eines soeben vor ihren Augen nach einem Herzinfarkt Verstorbenen feilbietet – der Mann habe schon bezahlt, und sie könne ja nicht für ein Bier zwei Mal abkassieren. Die einmalige Verbindung von Humor, Melancholie und kunstsinniger Inszenierung überzeugte denn auch die Jury, der in diesem Jahr der französische Filmkomponist Alexandre Desplat vorstand. Sie zeichnete die Taube mit dem Preis für den besten Film, dem Goldenen Löwen, aus.

Anderssons Film ragte nicht nur wegen seines rekordverdächtig langen Titels aus dem Festivalprogramm heraus. Unter den 20 Titeln, die in diesem Jahr um den Löwen konkurrierten, war die Taube vor allem formal der eigenartigste und eigenwilligste, weil Anderssons Sketchabfolge jenseits von realistischen Vorgaben funktioniert. Doch auch wenn die Gesichter seiner Figuren alle künstlich weiß geschminkt sind, behandelt Anderssons Film eine Frage, die sich in diesem Jahr als roter Faden durch das Festival mit all seinen Kriegs- und Krisenfilmen zog: Was bedeutet es, Mensch zu sein?

Seine Art der Antwort lieferte der Russe Andrej Kontschalowski mit The Postman’s White Nights, für den er den Silbernen Löwen für die beste Regie erhielt. Der 77-Jährige filmt darin die Bewohner eines abgelegenen nordrussischen Dorfs. Es sind dokumentarische Bilder, in denen der Großteil der Menschen sich selbst spielt, woraus eine behutsam steuernde Regie eine berührende Erzählung über Alter, Tod und Vergeblichkeit gewinnt. Kontchalowskis Blick auf seine oft auch groben, versoffenen Gestalten ist von einer Offenheit und Nachsicht geprägt, die den Film zum Publikumshit des Festivals machte.

Die deutsche Filmindustrie, enttäuscht über das preislose Abschneiden von Fatih Akins The Cut, konnte immerhin als Koproduzent des schwedischen Löwengewinners mitfeiern und sich über eine weitere Beteiligung freuen: Der Spezialpreis der Jury ging an den türkisch-deutschen Film Sivas von Kaan Müjdeci. Sivas erzählt von einem kleinen Jungen in Anatolien, der einen verletzten Kampfhund hochpäppelt und im Milieu illegaler Hundekämpfe sein »coming of age« erlebt. Müjdeci lebt in Berlin-Kreuzberg, wo er mit seinem Bruder, dem Produzenten seines Spielfilmdebüts, einen Concept-Store betreibt.

Leider wurde die Frage nach dem Menschsein einmal mehr fast ausschließlich als die nach dem Mannsein beantwortet. Bei den vielen Kriegsfilmen mochte man es noch für »natürlich« halten, dass die männliche Perspektive dominierte, doch auffällig war in diesem Jahr, dass auch in den Kinder- (siehe Sivas) und Liebesgeschichten (wie Benoît Jacquots charmanter Dreiecksgeschichte 3 Coeurs) ganz aus Sicht des Jungen bzw. Mannes erzählt wurde. Frauenrollen mit Gewicht gab es im Wettbewerb tatsächlich so wenig, dass der Jury gar nichts anderes übrig blieb, als Alba Rohrwacher für ihre Darstellung einer neurotischen Mutter im ansonsten eher dürftigen italienischen Film Hungry Hearts auszuzeichnen. Aber selbst in diesem Kindsbettdrama stand ein Mann, nämlich der von Adam Driver gespielte Vater, im Mittelpunkt – den die Jury prompt zum besten männlichen Darsteller kürte.

Eine einsame Ausnahme unter all diesen Männergeschichten lieferte Lisa Cholodenkos Miniserie Olive Kitteridge, die im Nebenprogramm gezeigt wurde. Francis McDormand spielt in der Verfilmung des gleichnamigen Pulitzer-Preis-Romans von 2008 die Titelheldin. Es geht um banal-alltägliches: Altern, Haushalt, Ehekrisen, Depression, Selbstmord, missratene Kinder. Exzellent geschrieben, voll von galligem Humor (»I’m only waiting for the dog to die so I can shoot myself«) erwies sich der Vierteiler als mindestens so bedrängend, beunruhigend und bitter wie alle gezeigten Kriegsdramen zusammen.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt