Kritik zu Große Erwartungen

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Mit der neuen Verfilmung des Dickens-Klassikers tritt Mike Newell in die Fußstapfen der berühmten David-Lean-Verfilmung von 1946, die als eine der »unheimlichsten Gespenstergeschichten« des englischen Kinos gerühmt wird

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Zum Abschluss des Dickens-Jahres kommt noch eine Neuverfilmung der »Großen Erwartungen « ins Kino, nachdem die BBC vor genau einem Jahr bereits mit einen Dreiteiler fürs Fernsehen aufgewartet hat. Warum ausgerechnet dieser Dickens-Stoff? »Große Erwartungen « gehört zum Spätwerk des Dichters und fächert einen Entwicklungsroman auf, der besser »Herbe Enttäuschungen« hätte heißen sollen. Viel bleibt nicht übrig von der unverhofften Erbschaft und den Versprechungen auf Teilhabe an der »besseren« Gesellschaft, die eine radikale Wende im Lebenslauf des Waisenjungen Pip herbeiführen. David Lean hat die Gespenstergeschichte betont; Gespenster bewohnen auch jetzt das Dornröschenschloss der betrogenen und rachsüchtigen Miss Havisham, die wie eine böse Stiefmutter ihre vergifteten Pfeile abschießt. Ähnliche Motive beflügeln ihren heimlichen Gegenspieler, den Verbrecher Abel Magwitch, für den Wohltätigkeit und Rache zwei Seiten einer Medaille sind.

Doch schon Dickens vertraute auf Suspense und Geheimniskrämerei, um seine Story gehörig zu verfremden und nicht als krasse Gesellschaftskritik offenzulegen. Auf eine gehörige Portion gothic will auch ein Mike Newell nicht verzichten. Er setzt nicht auf Modernisierung wie Regievorgänger Alfonso Cuaron in der letzten großen Spielfilmversion des Stoffes von 1998, in der die von Dickens liebevoll geschilderte Marschlandschaft ins pelikanumflatterte Florida verlegt wird, sondern bleibt der Zeit, vor allem auch dem Geist Dickens’ glaubwürdig verhaftet, wenn er die Gegensätze, die Idylle der englischen country side und das im Schmutz erstickende London, hart nebeneinander stellt. Kleines Glück und Fürsorge in der Schmiede versus Ausschweifung und Zynismus einer in Saus und Braus lebenden Oberklasse. Eine wirkliche Wahl hat dieser Pip, der als Kind seiner Zeit geschildert wird und als begabter Bub von Kindheit an »nach oben« schielt, eigentlich nicht. Dabei sind die Parallelen zur heutigen Zeit unverkennbar. Verlust von Wertvorstelllungen, Korruption und Klassengräben spalten auch die viktorianische Gesellschaft, zu der Dickens kein Happy End mehr einfiel. Erst in einer zweiten Version verpasste er dem Roman mit einer Annäherung des ewig getrennten Liebespaars Pip und Estella ein verhaltenes Happy End.

In seiner Gesamtkonzeption erscheint Newells Film jedoch zu glatt, zu gefällig. So durchläuft der stets gut aussehende Hauptdarsteller Jeremy Irvine, der wie ein Model durch die Londoner Gesellschaft flaniert und die Entfernung von seiner Herkunft deutlich markiert, die Tragödie seines Lebens verhältnismäßig unbeschädigt. Überzeugender die Zeit der Kindheit, der harmlose Bauernbub Pip und die schon auf Distanz pochende kleine Dame Estella, die beide nur den dunklen Machenschaften ihrer Drahtzieher dienen und den Werdegang zweier missbrauchter Kinder geradezu beispielhaft durchleben. So kann sich, wer will, auf das Weihnachtsmärchen freuen, Dickens-Liebhaber auf eine interessante Version desbekannten Stoffs.

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