Kritik zu Living – Einmal wirklich leben
Am Ende seiner Tage will ein Beamter die verbleibende Zeit nutzen, um doch noch Spuren im Leben zu hinterlassen. Literaturnobelpreisträger Kazuo Ishiguro hat Akira Kurosawas Klassiker »Ikiru« ins London der 1950er übertragen
Straßenszenen des London der frühen Fünfziger: Doppeldeckerbusse in strahlend rotem Technicolor, Damen in Kostümen beim Schaufensterbummel, eilige Männer, spielende Kinder im Park. Die Bilder, im 4:3-Format und etwas verwaschen, als kämen sie direkt aus einem alten Röhrenfernseher. Es erklingt die Walzermelodie aus Antonín Dvořáks Streicherserenade, sie schwillt an, erfasst die Bilder wie ein schwelgerischer Strudel. Nostalgisches Großstadtgewusel. Lebenslust und Vergänglichkeit. Gleich in diesen ersten Momenten etabliert das Melodram »Living« seine Themen, die in den nächsten zwei hinreißend melancholischen Stunden subtil immer wieder in Schwingung gebracht werden.
Dazwischen Stillstand. Am Bahnsteig warten Männer in Anzügen auf den Zug, sie alle arbeiten in der städtischen Beschwerdestelle. Steife Oberlippe, keine Miene wird verzogen, auch später im Abteil nicht. Ein Scherz des neuen Kollegen mit eisigem Schweigen bestraft. Die ungeschriebenen Regeln der Bürokratie muss sich Peter Wakeling (Alex Sharp) an seinem ersten Arbeitstag erst noch aneignen, die Rituale der Kollegen etwa, die in diesem Mikrokosmos aus klackernden Schreibmaschinen, meterhohen Papieraktenstapeln und einem endlosen Labyrinth aus Türen, Schränken und Tischen nur kleine Rädchen im Getriebe sind.
Geleitet wird die Abteilung vom mürrischen Eigenbrötler Mr Williams (Bill Nighy), der sich im Laufe der Jahre perfekt eingefügt hat. Doch dann erhält er eine Krebsdiagnose, nur wenige Monate bleiben ihm. Zunächst zögerlich beginnt Williams seinen Alltagstrott zu durchbrechen, ein bisschen Spaß zu haben. Ist das schon alles, womit will er sich von dieser Welt verabschieden? Er beschließt, sich für den Bau eines Spielplatzes in einer vernachlässigten Wohngegend einzusetzen, sein kleiner Beitrag zu etwas mehr Menschlichkeit. Bei alldem bleibt Williams stets still und würdevoll. Nighy haucht dieser verletzlichen, widersprüchlichen Figur mit subtilem Spiel Leben ein, lässt sie bei allen Schwächen sympathisch erscheinen.
»Living« ist eine Neuinterpretation von Akira Kurosawas Schwarz-Weiß-Drama »Ikiru« aus dem Jahr 1952, das selbst wiederum auf Tolstois Novelle »Der Tod des Iwan Illjitsch« von 1886 beruht. »Living« verlegt die Handlung ins London der frühen 1950er, was erstaunlich gut gelingt, auch weil der Film ansonsten der Vorlage recht treu bleibt. Das Drehbuch zu »Living« verfasste Literaturnobelpreisträger Kazuo Ishiguro, der als britischer Schriftsteller japanischer Herkunft – er wurde 1954 in Nagasaki geboren und kam als Fünfjähriger mit seinen Eltern nach Großbritannien – die Parallelen beider Kulturen wie kaum ein Zweiter herauszuarbeiten versteht. Es kursiert die Anekdote, dass Ishiguro viele Jahre lang vorschwebte, den Klassiker in englischer Sprache neu zu verfilmen mit dem britischen Schauspieler Bill Nighy in der Hauptrolle. Eines Nachts wollte es der Zufall, dass Ishiguro und seine Frau nach einer Party ein Taxi mit Nighy teilten. Der zurückhaltende Schriftsteller wagte es, die Gunst des Moments zu nutzen, und erzählte von seiner Idee. Nur hatte Nighy »Ikiru« nie gesehen, versprach aber, es nachzuholen. Und sagte dann sofort begeistert zu. Für ihre Leistungen wurden beide in diesem Jahr oscarnominiert.
Es ist nicht das erste Drehbuch des erklärten Kinofans Ishiguro, auch James Ivorys »The White Countess« (2005) stammte aus seiner Feder. Verfilmt wurden außerdem einige seiner Romane wie »Was vom Tage übrig blieb« und »Alles, was wir geben mussten«, die er allerdings nicht selbst adaptierte. Bei »Living« führte nun der Südafrikaner Oliver Hermanus Regie, der damit nach Filmen wie »Skoonheid« und zuletzt »Moffie« erstmals außerhalb seiner Heimat dreht. Er beweist großen Stilwillen, den er mit Gesellschaftskritik zu einem sehr berührenden, humanistischen Melodram zu verbinden versteht. Durch das klassische Kinoformat schafft Hermanus nicht nur eine adäquat nostalgische Anmutung, sondern auch eine beengende Atmosphäre, aus der sein Protagonist als bürokratischer Jedermann auszubrechen versucht. Am Ende gewinnt das System, wie immer, doch Williams hat einige Kinder glücklich gemacht. Und damit letztlich sich selbst. Die Schaukeln werden bleiben, wenn er schon lange nicht mehr ist.
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