Wohl eine Generationenfrage
"Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der die Kultur über Gegenstände weitergegeben wurde", sagt der Comiczeichner Aksel in »Der schlimmste Mensch der Welt«. Er fährt fort: "Sie war interessant, weil wir zwischen ihr leben konnten." Julie, die ihn im Krankenhaus besucht und gut 20 Jahre jünger ist, versteht nicht ganz, wovon er spricht – meint er Bücher? Ja, die meint Aksel auch.
Dieser Anflug von Nostalgie hat einen konkreten, furchtbaren Anlass. Aksel leidet an einem Krebs, der unheilbar ist. Morgen steht ihm eine weitere Operation bevor. Eigentlich sei es keine Nostalgie, sondern Todesangst, erklärt er seiner verlorenen Liebe Julie, die ihn dazu gebracht hat, die Vergangenheit zu verehren. Das ist einer meiner Lieblingsdialoge aus dem letzten Kinojahr und ich glaube, sie kommt in dem Kapitel des Films vor, das mit "Das Unbehagen in der Kultur" überschrieben ist. Ich vermute, Trier und sein Co-Autor Eskil Vogt sprechen auch über sich selbst in diesem Moment, denn sie gehören der gleichen Generation an wie Aksel. Wenn ich ihnen eine Freude am Haptischen unterstelle, ist das nicht bloße Spekulation. Als Trier vor einigen Tagen den Kunstpreis der Berliner Akademie der Künste erhielt, zeigte er sich in seiner Dankesrede als ein aufgeklärter Nostalgiker, der beispielsweise entschieden am Kinoerlebnis festhält, an der Neugier und Schaulust, die ein Publikum an einen Ort führt, an dem es diese teilen kann. Bei der Arbeit am Drehbuch war er fast so alt wie Aksel, inzwischen ist auch er 49. Also jung genug, um in die Zukunft zu schauen.
In der Gegenwart wiederum stelle ich mir ständig die Frage, weshalb ich so an den Dingen festhalte, an der Materialität, in der die Kultur aufbewahrt ist. Aktuell beschäftigt sie mich besonders, da sich in meinem Umfeld gerade Umzüge, Wohnungsauflösungen und andere Umbrüche zu häufen scheinen. Stattliche Büchersammlungen werden jetzt als eine Last wahrgenommen und nicht mehr als ein im Lauf der Jahrzehnte angehäufter Wert. Es gilt auszusortieren, was man fortan nicht mehr zu brauchen glaubt. Nicht zu Unrecht werde ich in meinem Freundeskreis als ein dankbarer Abnehmer betrachtet. Sammeln und Erben ist die eine Seite, die Bedingungen von Verfügbarkeit die andere. Bislang blieb ich weitgehend von ihm verschont. Irgendwie war der gerade benötigte Film auf VHS, DVD oder Blu ray zu finden. Gewiss, die Ausnahmen mögen sich mit der Zeit mehren. Aber Leute, die sich auf das Angebot der Streamingdienste verlassen, werden offenbar mit ganz anderen Engpässen konfrontiert. Collider.com beispielsweise, eine Website, die ich eher selten konsultiere, birst vor den Klagen von Nerds (manche von ihnen sind auch Autoren, aber sie schreiben nicht unbedingt so), die häufig auf den einschlägigen Plattformen nicht mehr fündig werden. Das wird dann als ein böses Erwachen geschildert, denn irgendwie hatte sich in ihren Köpfen die Vorstellung festgesetzt, diese seien Datenbanken, in denen alles unbegrenzt zugänglich sein müsste. Das Verschwinden von Serien und Filmen ist anscheinend ein kapitales Problem. Der auf Collider regelmäßig gestellten Forderung, die Streamingdienste sollten ihre Schätze auf physischen Medien herausbringen, mag ich mich natürlich anschließen. Ich warte auch darauf, dass die Criterion Collection ihre Blu ray von »The Power of the Dog« in Europa mit einem Ländercode herausbringt, für den mein Player ausgerüstet ist. Aber ob die Hinwending zum Gegenstand für die Plattformen ein lukratives Geschäftsmodell ist, darf man bezweifeln.
An die Technik knüpfen sich Fortschrittserwartungen. Nebenbei ist das aber auch eine Geschmacksfrage. DVD und Blu ray gebe ich selbstverständlich gegenüber der VHS den Vorzug, schon allein als Objekt. Der Sprung vom Vinyl zur CD hingegen war für viele Musikfreunde kein ästhetischer Zugewinn. In »Tár« empfindet es Cate Blanchett als Demütigung, dass die Deutsche Grammophon ihren Mahhler nur noch digital veröffentlichen will. Welchen Fortschritt das Streamen darstellt, hat sich mir bislang noch nicht erschlossen. Die Nerds von Collider beschweren sich darüber, dass sie von der Gnade ihrer Internetverbindung abhängig sind. Anscheinend ist die nicht überall in den USA gleich gut. Man kann die Gemengelage übrigens auch als ein ideologisches Schisma betrachten, wie es Jörg Buttgereit in seiner Kolumne für "ray" tut. In »De-aging Niro« (im letzten oder vorletzten Heft erschienen, ich habe nicht nachgesehen, ob die Zeitschrift das Stück auch online vorhält) outet er sich als inniger Streaming-Hasser. Seine Weißglut entzündet sich insbesondere daran, dass er »The Irishman« nicht im Kino sehen durfte (hätte er in Berlin können, selbst in Herford ist das meinem Freund Heiko und mir umstandslos gelungen), sondern ihn in den Tiefen des Netflix-Angebots suchen musste. Mir gefällt diese eklatante Verkennung heutiger Realitäten. Und einen Satz kann man sich an die Wand hängen: "Die Sichtung eines neuen Scorsese-Films sollte für jeden zugänglich und ein Menschenrecht sein." Vorerst muss die Welt noch nicht untergehen, denn heute früh las ich, dass Paramount »Killers of the Flower Moon« im Oktober breit in US-Kinos herausbringen will (Update: Gerade kam die Pressemitteilung vom hiesigen Start am 19. Oktober), bevor er einige Monate später dann bei Apple gestreamt wird.
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