Kritik zu Wir sind dann wohl die Angehörigen
Die Entführung des Millionärs, Mäzens und Publizisten Jan Philipp Reemtsma war einer der spektakulärsten Kriminalfälle der 90er. Hans-Christian Schmids Film rekonstruiert das Erleben der Familie
Blitzlichter, Fotografenrufe, Reporterfragen. Die Kamera ist ganz nah dran, klebt fast an den Hinterköpfen, als die Familie sich einen Weg zum Auto bahnt. Der Junge zieht sich die Kapuze über den Kopf, bis sie im Wagen sitzen und wegfahren in die Nacht. »Ich habe vorher nicht gewusst, was Angst ist. Und was sie mit einem macht«, sagt der Junge aus dem Off. Es ist das Ende einer 33 Tage dauernden Tortur, in der der Hamburger Millionenerbe Jan Philipp Reemtsma als Geisel an unbekanntem Ort gefangen war und seine Frau Ann Kathrin Scheerer und der gemeinsame Sohn Johann um sein Leben bangten. Und es ist der Beginn von Hans-Christian Schmids »Wir sind dann wohl die Angehörigen«, der von diesen Wochen erzählt. Das Ende nimmt der Filmemacher vorweg, weil es bekannt ist. Und weil es in seinem Drama nicht um eine genreübliche Krimiauflösung geht, nicht um die Täter, auch nicht um den Entführten selbst, sondern um eine möglichst präzise Studie, was dieses Warten und Bangen mit denen macht, die dem Opfer am nächsten stehen. »Wir sind dann wohl die Angehörigen« hatte Johann Scheerer 2018 sein Buch genannt, in dem er seine Erinnerung, seine Sicht als 13-Jähriger aufgeschrieben hat, mit dem Abstand von 22 Jahren nach den traumatischen Wochen. Ein Satz, der sich auf die polizeilichen Einsatzkräfte bezieht, die sich im Haus der Familie eingenistet haben, um auf jede Kontaktaufnahme der Entführer reagieren und zugleich als »Angehörigenbetreuer« agieren zu können.
Am 25. März 1996 war Reemtsma in seiner Villa entführt worden, nach fast fünf Wochen wurde er gegen ein Lösegeld von 30 Millionen Mark freigelassen, die Medien hatten bis dahin auf Bitte der Familie und Polizei auf Berichterstattung verzichtet, um die Geisel nicht zu gefährden. Danach stürzten sie sich auf die Geschichte, spekulierten über missglückte Geldübergaben und Polizeipannen, nur wenige Monate nach der Freilassung veröffentlichte Reemtsma mit »Im Keller« seinen Erfahrungsbericht als Buch. Nun nähert sich Regisseur Hans-Christian Schmid mit Scheerers Erinnerungen als Vorlage einem der spektakulärsten Kriminalfälle der deutschen Nachkriegsgeschichte in unspektakulärer Nüchternheit und geht in seinem Sezieren bürgerlicher Familiendynamiken mit der Präzision und Subtilität vor, die auch seine bisherigen Filme zu Ausnahmeerscheinungen des deutschen Kinos machten, ob »Requiem« 2006 oder zuletzt »Was bleibt« vor zehn Jahren. Schmid nimmt sich zunächst Zeit, in kleinen Gesten den Alltag dieser bildungsbürgerlich-wohlhabenden Familie zu erzählen, das angespannte Verhältnis des pubertierenden Jungen (Claude Heinrich) zum übermächtigen Vater etwa. Da wird nichts beschönigt oder dramatisiert. Die Eltern sind zugewandt, ohne übermäßig liebevoll zu sein, körperliche Zuneigung wird kaum gezeigt, auch von der Mutter Ann Kathrin Scheerer (Adina Vetter) nicht. Am nächsten Morgen ist Reemtsma verschwunden, seine Frau bleibt erstaunlich ruhig, pragmatisch werden Vorkehrungen getroffen, die Beamten bauen ihre Abhörtechnik auf. Das Warten beginnt, zur Unterstützung kommen der Anwalt Johann Schwenn (Justus von Dohnányi) und Christian (Hans Löw), ein Freund der Familie, der sich vor allem um Johann kümmern soll und dabei mehr Wärme zeigt als die Eltern.
Im Mittelpunkt stehen immer wieder die widersprüchlichen Interessen und die Dynamik zwischen der Intellektuellenfamilie, die das Opfer möglichst schnell wieder bei sich haben will, sowie den Polizeibeamten, deren Ziel auch die Festnahme der Täter ist und denen immer wieder peinliche Pannen unterlaufen. Auch Schwenn, der überhebliche Anwalt der Familie, patzt bei den Telefonaten mit den Entführern und bringt damit Geldübergaben zum Scheitern. Dieses Ringen um das richtige Vorgehen, die angespannte Stimmung über Wochen und der gegenseitige Vertrauensverlust, all das zeigt Schmid, ohne selbst klar Position zu beziehen. Interessant ist dabei auch Johanns schwieriges Verhältnis zum abwesenden Vater, dieser übermächtigen Figur. Erst ganz am Ende, als die Familie wiedervereint ist, gibt es einen Moment der Wärme. Aneinandergeschmiegt liegen sie zu dritt im Bett, der Vater in der Mitte. Nach all der nüchternen Distanz wirkt dieses Bild fast kitschig.
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