Netflix: »The Gray Man«
Wie wenig es manchmal (gerade für Männer) braucht, um in der Regiebranche als heißes Eisen zu gelten, zeigt wohl kaum eine Karriere so exemplarisch wie die von Anthony und Joe Russo. Ein erster, selbst finanzierter und nie regulär ins Kino gekommener Film erregte die Aufmerksamkeit von Steven Soderbergh, der dann den Nachfolger »Welcome to Collinwood« produzierte, ein Indie-Achtungserfolg. Es folgten: eine mäßig erfolgreiche Komödie mit Kate Hudson und Owen Wilson (»Ich, Du und der Andere«) sowie einige Jahre Sitcommitarbeit (»Arrested Development«, »Community«), was für Marvel aber ausreichte, den Brüdern die Inszenierung des zweiten MCU-»Captain America«-Films »The Return of the First Avenger« anzuvertrauen.
Der Rest ist Geschichte. Drei weitere Marvel-Filme (»Captain America: Civil War«, »Avengers: Infinity War« und »Avengers: Endgame«) später stehen die Russos in der Liste der Filmemacher*innen mit den höchsten Einspielergebnissen hinter Spielberg auf Platz 2, was nicht zuletzt auch für die Streamingdienste einen Grund darstellte, sie als Regisseure, Produzenten und (in Joes Fall) Drehbuchautoren zu hofieren. Nach der effekthascherischen Suchtgeschichte »Cherry« im vergangenen Jahr legen die beiden nun mit »The Gray Man« nach, dem Vernehmen nach die bislang teuerste Netflixproduktion überhaupt. Als Vorlage diente der gleichnamige Roman von Tom-Clancy-Mitstreiter Mark Greaney, der eine ganze Reihe von Fortsetzungen hat, womit das Franchisepotenzial also miteingebaut ist.
Titelheld ist Court Gentry, stoisch gespielt von Ryan Gosling, der einst im Gefängnis von der CIA als Profikiller für besondere Aufgaben abgeworben wurde und seither maschinengleich und natürlich nur unter der Hand sanktioniert immer dann zum Töten geschickt wird, wenn es sonst keinen Ausweg gibt. Doch bei einem Job in Thailand bekommt Gentry mit, dass er selbst womöglich auf der Abschussliste steht, weil der für sein Programm verantwortliche Geheimdienstler (Regé-Jean Page) Dreck am Stecken hat und seine Spuren verwischen will. Bald ist er auf der Flucht einmal rund um den Globus, hat einen sadistisch-gelackten Kollegen (Chris Evans) an den Fersen und muss nebenbei auch noch versuchen, gemeinsam mit seiner einzigen potenziellen Vertrauten (Ana de Armas) die herzkranke Nichte (Julia Butters) seines früheren Mentors (Billy Bob Thornton) zu retten.
Mitgefühl für das gekidnappte Mädchen sowie ein paar Rückblenden, die zeigen, dass Gentry damals eigentlich für eine gute Tat hinter Gittern landete – das muss in »The Gray Man« reichen, um den gnadenlosen Killer zum vermeintlich sympathischen Helden zu machen, dem man gern durch diesen und womöglich weitere Filme folgt. Wirklich aufgehen tut die Rechnung allerdings nicht. Denn anders als James Bond oder Jason Bourne bleibt Goslings Figur reichlich flach und eindimensional.
Überhaupt zeigt der Film, dass die Russos zwar sicherlich talentiert darin sind, bei Großproduktionen dieser Art alle Fäden in der Hand zu halten und jede Menge Actionszenen atemlos aneinanderzureihen, aber eben keine sonderlich guten Geschichtenerzähler. Alles in »The Gray Man« ist Kalkül und Oberfläche, nicht bloß die Tränendrüsen-Backstory des Protagonisten. Die mitunter spektakulären Schauplätze, die von Hongkong, Baku und Prag bis zum Hundertwasserhaus in Wien und einem stattlichen Schloss in Kroatien (das tatsächlich in Nordfrankreich steht) reichen, die kleine Nebenrolle für den indischen Superstar Danush, Chris Evans' extrafieser Haarschnitt samt Schnurrbart – all das trägt leider viel zu wenig zu einer wirklichen Story bei.
Was bleibt, ist eine ziemlich seelenlose und leider, aller Brutalität zum Trotz, erschreckend unspannende Aneinanderreihung von Kampfszenen, Stunts und Explosionen, gepaart mit dümmlichen Dialogsätzen (»Make him dead!«) und einem immer mal wieder eingestreuten Humor, der bei den Avengers gepasst hat und hier für lässige Coolness sorgen soll, aber letztlich leider nur zynisch rüberkommt. Dem Höhenflug der Russos wird all das aber natürlich nichts anhaben. Und weil sie kürzlich immerhin auch »Everything Everywhere All At Once« produziert haben, ist man fast nachsichtig gestimmt.
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