Filmfest München
»The Ordinaries« (2022). © Bandenfilm
Nach zwei mageren Jahren mit Absage (2020) und Open-Air-Kino (2021) kehrte das Münchner Filmfest Ende Juni fulminant in die Kinos zurück. Und die Besucher auch, trotz gutem Wetter
Es war sein letzter öffentlicher Auftritt, die Premiere seines Films »Champagner für die Augen – Gift für den Rest«. Mit einem Stück Pappe und dem Slogan »Kunst kommt von küssen« lief er herum. Eine Woche nach dem Filmfest ist Klaus Lemke, der seine Filme immer ohne Förderung drehte, gestorben. Das Münchner Filmfest hat dem Unbequemen des deutschen Films in den letzten Jahren stets die Treue gehalten. Seine Doku ist ein München-Fundstück, »eine Revue der 70er Jahre in München anhand meiner Filme«, sagt Lemke selbst als Intro zu seinem Film, der der Aufbruchsstimmung jener Jahre nachspürt. Ein ungewolltes Requiem.
Auch ein anderer Film aus den 70er Jahren kam auf dem Filmfest als Manifest einer Aufbruchsstimmung zu einem neuen Leben, wenn auch nur als Zitat: »Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt«. Sein Regisseur Rosa von Praunheim beschäftigt sich in »Rex Gildo –- Der letzte Tanz« mit dem Leben des Schlagersängers, dessen Songs damals die deutschen Hitparaden beherrschten (»Speedy Gonzalez«) und für manche bis heute nicht zu goutieren sind. In seinem dokumentarisch-fiktiv-essayistischen Biopic wirft Praunheim in Dekors, die ihre Künstlichkeit geradezu ausstellen, einen Blick auf die Erstellung einer Kunstfigur, die ihre Homosexualität bis zum Schluss verbarg oder verbergen musste. Motor von Rex Gildos (Kilian Berger) Erfolg ist sein Geliebter und Mentor Fred Miekley (Ben Becker), den der Sänger immer als seinen Onkel vorstellte. Interviews mit Zeitzeugen und Partnerinnen wie Gitte Haenning oder Cornelia Froboess und viele Archivaufnahmen runden den Film um den Erfolg und den Leidensweg des Sängers ab, der am Ende seiner Karriere in Möbelhäusern auftrat.
Auch Rosa von Praunheim geht auf die 80 zu – und ist wie Lemke sehr produktiv. Aber eigentlich gehört die Reihe »Neues Deutsches Kino«, sicherlich eine der wichtigsten der vielen Sektionen beim zweitgrößten deutschen Festival, dem Nachwuchs. Und wieder einmal war in der von Christoph Gröner betreuten Reihe eine große Bandbreite an Handschriften und künstlerischen Äußerungen versteckt. Die reichte von der Culture-Clash-Komödie Nicht ganz koscher, einem der potenziellen Arthouse-Blockbuster dieses Sommers, über Pola Becks großartigen »Der Russe ist einer, der Birken liebt«, der im existenziellen Taumel seiner weiblichen Hauptfigur mit Becks Erstling »Am Himmel der Tag« verwandt ist, bis hin zu »The Ordinaries« von Sophie Linnenbaum, der in Haupt- und Nebenfiguren sowie Outtakes eingeteilten Schilderung der Klassengeschaft einer fernen Zukunft – das eher geringe Budget macht der Film mit seinem visuellen Ideenreichtum wett.
Dennoch hat die Reihe auch ein Herz für die Filme, die es eher schwer haben werden im Kinoalltag, die experimentierfreudig sind und vielleicht auch neues Terrain erobern. Etwa Elfriede Jelinek – »Die Sprache von der Leine lassen« von Claudia Müller, ein Film, der fast ausschließlich mit Archivmaterial arbeitet und versucht, das Denken und die Vorstellungen der österreichischen Schriftstellerin in Bilder zu fassen. Beeindruckend und ergreifend war auch »Liebe Angst« von Sandra Prechtel, ebenfalls ein Dokumentarfilm, in dem die Sängerin Kim Seligsohn ihrer Mutter Lore begegnet, die im Alter von sechs Jahren versteckt wurde, während die Nazis ihre Mutter nach Auschwitz deportierten. Prechtel (die schon mit der Roland-Klick-Doku »The Heart is a Lonely Hunter« beeindruckte) liefert keine Biografie einer Holocaustüberlebenden, es kommt ihr auf den Prozess der Annäherung der beiden an.
Und seltsam, dass das dritte Fundstück der Sektion wieder ein Dokumentarfilm war: »Der rote Berg« von Timo Müller. Interviews mit Obdachlosen, die in den Höhlen des Sandsteingebirges bei Trier leben, vier Jugendliche, die dort durch die Gegend streifen, schwer deutbare Aussagen über Heilige, das Eisen im Gestein bis hin zu Wilhelm Reich und dazwischen immer lange Einstellungen des rätselhaften Felsens, der an den australischen Ayers Rock denken lässt – die Ahnung eines Geheimnisses, das über diesem Felsen liegt, lässt den Zuschauer bis zum Ende nicht los.
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