Glück des Zauderns und Wunder der Entgrenzung
Seine Liebe zum Kino entdeckte er früh. Als er 1984 einen Kurzauftritt in »Die Günstlinge des Mondes« von Otar Iosseliani hatte, war noch nichts entschieden. Dann kam es anders als geplant, aber eigentlich genauso, wie Mathieu Amalric es sich erhofft hatte.
Er studierte an der Pariser Filmhochschule und lernte die Praxis in den unterschiedlichsten Metiers kennen: Er arbeitete als Aufnahmeleiter, Schnittassistent und bald als Assistent für Regisseure wie Louis Malle und Alain Tanner. Als er seinen ersten Kurzfilm montierte, lernte er im Schneideraum Arnaud Desplechin kennen, der ihm seine ersten wichtigen Filmrollen gab. Mit Ende 20 wurde er ein professioneller Schauspieler und bald eines der prägenden Gesichter des französischen Films. Es besteht kein Anlass anzunehmen, dass Amalric den glänzenden Verlauf seiner Karriere bedauern würde. Aber es ist gut möglich, dass er sie als einen Umweg betrachtet.
Das Berliner Arsenal stellt ihn vor allem als Regisseur vor. Der Mann mit der Doppelbegabung kommt aus Paris, um heute und morgen in einige seiner Regiearbeiten einzuführen. Dass der gefeierte, mehrfach ausgezeichnete (drei César, als ich das letzte Mal zählte) Schauspieler sich selbst in erster Linie als Filmemacher betrachtet, ist kein Zeichen der Selbstverkennung. Es handelt sich nicht um eine heimlich gepflegte, nur eben weniger bekannte Passion – für »Tournée« erhielt er in Cannes 2010 allerdings den Regiepreis. Im Arsenal ist vielmehr die beharrliche, konzentrierte Arbeit an einem Werk zu entdecken, das eigensinnig und unvorhersehbar ist. Das verschlungene Biopic »Barbara« beispielsweise ist gar keins, sondern eine Hommage an die Chansonsängerin und die Darstellerin Schauspielerin Jeanne Balibar. Amalric kann ein Vollblutregisseur sein. »La chambre bleue« (Das blaue Zimmer), die Adaption des unverfilmbaren Simenon-Romans, an dem sich schon Maurice Pialat, André Téchiné und die Brüder Dardenne die Zähne ausbissen, hat Amalric in gleichen rasanten Tempo in Angriff genommen, in dem Simenon seine Romane schrieb: Bucharbeit und Dreh dauerten nur wenige Wochen und der fertige Filme besitzt den Elan eines klassischen B-Movies.
Mit dieser Regiekarriere geht eine der erstaunlichsten Verwandlungen einher, die ein Darsteller in den letzten zwei, drei Jahrzehnten durchlaufen hat. Wir haben ihn vielleicht allzu lang unterschätzt. Natürlich nicht sein Talent, das war von Anfang an offenkundig; wohl aber die Tatkraft, die in ihm steckt. Womöglich hat er uns aber auch getäuscht, in dem er so lang an den verhuschten, grüblerischen Charakteren festhielt, durch die er anfangs bekannt wurde. Hätten Sie sich noch vor, sagen wir mal, 15 Jahren vorstellen können, wie durchsetzungsfähig die Figuren sein würden, denen er inzwischen Gestalt verleiht?
Mit »Le Scaphandre et le papillon« (Schmetterling und Taucherglocke) wachsen ihm 2007 unverhofft eine weltmännische Virilität und ein offensiver Charme zu. Er spielt er einen lebenshungrigen Dandy, dessen Geschäft die Oberflächlichkeit ist – als Chefredakteur des Hochglanzmagazins «Elle» –, aber auch die ist in Frankreich ja hintergründiger als anderswo. Aber hätte man sich ernstlich träumen lassen, dass er auch einmal einen Gegenspieler von James Bond verkörpern würde? Mir scheint, er hat die Lust an der Entgrenzung entdeckt: Je unmöglicher ihm eine Rolle erscheint, desto mehr Gestaltungsfreiheit findet er in ihr.
Der Part des zaudernden Intellektuellen lag ihm anfangs wahrscheinlich auch so gut, weil er sie aus eigener Anschauung genau kannte. Er wurde 1965 in eine Journalistenfamilie geboren: Seine Mutter ist Literaturkritikerin, sein Vater wat zeitweilig Chefredakteur der Tageszeitungen «Le Monde» und «Libération».. Mit Arnaud Desplechins "Comment je me suis disputé... (ma vie sexuelle)" feiert er 1996 seinen Durchbruch als jungenhafter Intellektuellen mit verwuscheltem Haarschopf, als ein Peter Pan der Rive gauche, der sich spitzbübisch vor der Verantwortung des Erwachsenenlebens drückt. Er hält seine Figuren in der Schwebe. Sie lieben die Unbestimmtheit, das Flirren der Möglichkeiten. Und sie scheuen die Entscheidung, verharren in Beziehungen, weil sie den Bruch scheuen, und werfen geflissentliche Blicke auf die Freundinnen der anderen. Schwerelos sind sie nicht: An ihnen nagt das Schuldgefühl, anderen Schmerz zuzufügen. Es fällt schwer, sich ihn in Zeiten vorzustellen, in denen nicht mehr geraucht wird.
Das Innenleben, die Phantasie seiner Figuren ist rastlos. Stets stehen sie an der Schwelle zum Aufbruch, deren Überwindung Amalric im Verlauf seiner Schauspielerkarriere immer leichter fällt. Seine Rollen scheinen den Befund zu bestätigen, die vorherrschende Handlung in französischen Filmen sei das Sprechen. Aber wie seine Regisseure ist Amalric ein dynamisches Erzähltemperament. Desplechin und Olivier Assayas (in »Fin août, début septembre«) filmen ihn während seiner Dialogszenen unablässig in Bewegung, beim Gehen oder anderen alltäglichen Verrichtungen. Der Blick von Amalrics Knopfaugen ist wachsam und lebhaft, sein Körperspiel agil und elastisch. Der Schauspieler wirkt schmächtig, in der Schwimmbadszene aus »Comment je me suis disputé« ist jedoch zu sehen, wie sportlich er tatsächlich ist. Verführerisch macht ihn jedoch seine Sensibilität. Das Lächeln, das seinen Mund umspielt, verrät die Überraschung, dass die Frauen sich für ihn interessieren könnten, und zugleich die Genugtuung, dass ihre Aufmerksamkeit nicht unverdient ist. Seine Zärtlichkeiten sind geschickt, es gelingt ihm, eine selbstverständliche, spielerische Komplizenschaft zu seinen Partnerinnen herzustellen. Seine Charaktere haben viel Geduld mit den eigenen Neurosen, aber wenig mit den Krisen der Frauen.
Schon an der Filmhochschule wiesen ihn Kommilitonen auf seine Ähnlichkeit mitRoman Polanski hin (seine Vorfahren mütterlicherseits stammten aus dem gleichen Shtetl in Polen wie die Großmutter des Regisseurs). In »La Venus à la fourrure« (Venus im Pelz) übernimmt er dessen Rolle. Schon oft fungierte er als das Alter Ego seiner Regisseure, allen voran Desplechin, oder als der Repräsentant des filmischen Blicks: „Schmetterling und Taucherglocke“ ist in weiten Teilen aus der Perspektive seiner Figur erzählt, die am Locked-in-Svndrom leidet. Inzwischen tritt Amalric als sein eigenes Alter ego auf. Der Regisseur, den er in »Barbara« spielt, trägt den Mädchennamen seiner Mutter, Zand. Aber auch dieses Spiel mit der Rolle genügt ihm längst nicht mehr. Als Regisseur ist er vor allem ein wunderbarer Zeichner von Frauenporträts, aktuell in »Serre moi fort« mit Vicky Krieps, davor steht meist seine (Ex-)Frau Jeanne Balibar im Zentrum. »Tournée« bildet ein faszinierendes Scharnier. Ich mag ihn, weil er auch eine Wegmarke seiner darstellerischen Entdeckung von Tatkraft darstellt. Er spielt den durchaus windigen und schlitzohrigen Impresario (der wiederum Zand heißt) einer Truppe amerikanischer Burlesque-Tänzerinnen. Er setzt sie, als Filmemacher wie in seiner Rolle, als genuine Künstlerinnen in Szene, voller gelenkiger Komplizenschaft mit der Kameraderie der Frauen, deren wuchtige Sinnlichkeit er weder geniert noch voyeuristisch betrachtet. Die amerikanische Unternehmungslust der Tänzerinnen ist ansteckend: Amalric bereichert sie um eine robuste Melancholie. Aber er bremst sie nicht durch Zaudern.
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Noch ein Hinweis
Da wir gerade von acteurs-auteurs sprechen: Ab dem 11. April zeigt das Japanische Kulturinstitut in Köln die Retrospektive der sechs Regiearbeiten von Kinuyo Tanaka, auf die ich im Eintrag "Autorinnen vor und hinter der Kamera" vom 12. 9, 2021 einstimmte.
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