Kritik zu Das blaue Zimmer
Die soundsovielte Simenon-Verfilmung zählt zweifellos zu den besten. Mathieu Amalric gelingt ein kleines Meisterwerk in Suspense, das sein Geheimnis bis zuletzt bewahrt
Das blaue Zimmer im Hôtel de la Gare birgt kein Geheimnis. Durch die halboffenen Läden dringt die Mittagssonne, Geräusche kommen von der Straße, vom nächstliegenden Balkon. Und wir, die Zuschauer, sind schon mittendrin und sehen das Liebespaar, das nur so geheimnisvoll tut – wo doch die ganze Kleinstadt Bescheid weiß, wie später zu erfahren ist. Esther und Julien, die Frau des Apothekers und der Familienvater mit Kind, haben ein Verhältnis. Wäre es dabei geblieben, hätte man es weiter stillschweigend geduldet oder irgendwann vergessen. Aber es hört plötzlich auf, und Julien verbringt die Ferien familiengemäß in einem bretonischen Seebad; dann stirbt der Apotheker einen nächtlichen Tod, aber das ist noch nicht alles. Ein Mord, zwei Morde?
Geheimnisträger ist nicht das blaue Zimmer, sondern sein kühler, sich leicht verschattender Farbton. Im Blau steckt Schwarz. Dazu gesellt sich Rot, der Blutstropfen an seinen Lippen, gefolgt von ihrer Frage: »Hab ich dir wehgetan?« Die geistesabwesend klingende Antwort »Nein« entwirft blitzartig ein ganz anderes, verwirrendes Bild von einem Liebespaar, dessen Leidenschaft sich im kühl wirkenden blauen Zimmer plötzlich frostig anfühlt. Diese Exposition ist ein Täuschungsmanöver, keine Frage, Wort für Wort nachzulesen in der Romanvorlage von Georges Simenon, der ein perfektes Drehbuch geschrieben hat. Ein Himmelsgeschenk für einen Regisseur wie Mathieu Amalric, der auf die Schnelle ein Filmsujet suchte und es direkt vor seiner Nase in seinem Bücherregal stehen hatte.
Wenn die Offstimme ins blaue Zimmer einbricht, und das geschieht nur allzu bald, wird aus dem Vorfall ein Fall. Von nun an tritt die Vergangenheit bruchstückhaft ans Tageslicht. Das Fragespiel geht weiter, nur die Mitspieler haben gewechselt. Ein Psychiater und ein Untersuchungsrichter versuchen, einen Fall zu lösen. Im Nu verwandelt sich Julien in einen Beschuldigten. Die Amour fou ist passé, die zögerlichen Antworten bleiben. Die kurzen Rückblenden konzentrieren sich auf ihn, sein Familienleben, streifen eine vernachlässigte Ehefrau, blond, nicht dunkel wie die Geliebte, eine Frau, die immer auf der Hut ist. Es geht nur um Julien, den schwachen, verführbaren Mann. Um einen, der am seidenen Faden seiner Leidenschaft hängt, die ihn aus dem kleinbürgerlichen Einerlei erlöst und in den Stand eines Befehlsempfängers einer Geliebten erhoben hat. Eine typische Simenon-Figur. Ein hilfloser Held, der nicht weiß, was er tut, warum er es tut oder was mit ihm geschieht.
Nicht nur der Schauspieler, auch der Regisseur Mathieu Amalric hält die traumhaft verlorene Stimmung, die man auch Entfremdung nennen könnte, mit bewundernswerter Beharrlichkeit durch. Es ist eine Geschichte wie auf dem Reißbrett entworfen. Glasklar in der Konstruktion, diffus in den Zwischentönen. Dass der Gerichtssaal, in dem – zuletzt – die Verhandlung mehr skizziert als gezeigt wird, mit einer tiefblauen, düster wirkenden Tapete ausgeschlagen ist, kann kein Zufall sein. Zufälle gibt es nicht in einem Spiel, das in einem blauen Zimmer ausgeheckt ist.
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