Kritik zu Petite Maman
Was wäre, wenn wir in der Zeit zurückreisen und den eigenen Eltern als Kindern begegnen könnten? Céline Sciamma gibt eine poetische Antwort
Es hat etwas Gespenstisches, dieses Haus, das die achtjährige Nelly (Joséphine Sanz) gemeinsam mit ihren Eltern ausräumt. Schatten tanzen auf dem Boden, die Räume sind leer, das Leben der gerade verstorbenen Großmutter verpackt in Kisten. So ist das, wenn jemand Geliebtes stirbt: Plötzlich ist da eine Leere, eine innere wie äußere, sind da Erinnerungen an das, was war und nie wieder sein wird. Wie dafür Bilder finden?
Die Antwort, die die französische Regisseurin Céline Sciamma in »Petite Maman« darauf gibt, ist eine durch und durch kinematografische: Sie hebelt Raum und Zeit aus und lässt Vergangenheit und Gegenwart, ja Generationen einander berühren und spiegeln, sich durchdringen. Dabei vermag es Sciamma, ohne Worte viel zu erzählen. Etwa in jener Szene, in der Nelly ihrer traurigen Mutter (Nina Meurisse) auf dem Fahrersitz von hinten Flips in den Mund schiebt: ein wundervolles Bild für die Liebe zwischen den beiden.
Wir sind mit der Familie, Vater (Stéphane Varupenne), Mutter, Tochter, in dem Haus, in dem Nellys »Maman« groß geworden ist. Ein Haus am Rande eines Waldes, der, wie das Elternhaus auch, voller Erinnerungen steckt. Dort hat die Mutter, als sie so alt war wie Nelly, eine Hütte inmitten von vier Bäumen gebaut. Nelly streunt, mit traurigem Blick, jedoch ohne Tränen, durch die leeren Räume und den herbstlichen Wald. Dann zwei Irritationen: Erst ist die Mutter eines Morgens einfach weg, und dann trifft Nelly im Wald auf ein gleichaltriges Kind, das gerade eine Hütte baut und, wie ihre Maman, Marion heißt.
Und damit beginnt das hintersinnige, fantastische, aber in diesem Film so durch und durch plausibel erscheinende Gedankenspiel: Was, wenn wir in die Vergangenheit unserer Eltern reisen, ihnen als Kinder begegnen könnten? Nelly braucht nur durch den Wald zu spazieren, um ihre neunjährige Mutter, gespielt von Joséphines Zwillingsschwester Gabrielle Sanz, und die Oma (Margot Abascal) im vor Leben strahlenden großmütterlichen Haus zu besuchen.
Auch wenn Sciamma im Interview betonte, dass sie keine besondere Beziehung zu Kindern habe, ist »Petite Maman« doch ein Film der Kinder. Wie schon in »Tomboy« um ein zehnjähriges Mädchen, das sich als Junge ausgibt, gelingt es ihr, sich einzufühlen in die kindliche Perspektive, ihr auf Augenhöhe zu begegnen. Es eröffnet sich ein verträumt-zeitloser, melancholischer Blick auf Kindheit, Trauer und Erinnerung. »Ich mache gern Kakaoinseln und esse sie«, sagt Marion, als sie ihrer neuen Freundin warmen Kakao serviert. Die beiden machen Pfannkuchen, spielen altklug Rollenspiele und bauen an ihrer Hütte im Wald.
Leichtigkeit und Melancholie kommen in »Petite Maman« zusammen. Kamerafrau Claire Mathon, bereits bei Sciammas »Porträt einer jungen Frau in Flammen« dabei, findet poetisch-konzentrierte Bilder für diesen kurzen, aber nachhallenden Film. Erinnerungen hinterlassen Spuren wie die alte Tapete hinter dem Schank, um den herum gestrichen wurde.
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