Streaming-Tipp: »Pieces of a Woman«
Natürlich wird die Brücke über den Boston River, an deren Errichtung Sean mitarbeitet, irgendwann einmal fertiggestellt. Genauso wahrscheinlich ist, dass die Apfelkerne, die Martha im Kühlschrank hegt, zu gegebener Zeit keimen werden. Aber lange sieht es so aus, dass den zweien die Zeit nicht gegeben, sondern genommen ist. Ein tragisches Ereignis stellt sie still. Sie kann nicht mehr linear verstreichen: Der Trost, den Vollendung und Entstehen spenden könnten, liegt in unerreichbarer Ferne.
Bis zum 17. September verlief das Leben von Martha (Vanessa Kirby) und Sean (Shia LaBeouf ) nach einem gemeinsam beschlossenen Plan, in dessen Zentrum das bald erwartete gemeinsame Kind stand. Das Paar war eine Einheit, sie zogen an einem Strang, obwohl sie aus unterschiedlichen sozialen Sphären stammten. Marthas Mutter Elizabeth (Ellen Burstyn) unterstützte sie mit flinkem Scheckbuch, obwohl sie sich einen anderen Schwiegersohn gewünscht hätte.
Den Riss, der am Abend dieses Septembertages durch ihr Leben geht, filmen Kornél Mundruczó und der Kameramann Benjamin Loeb in einer einzigen Einstellung, die 23 Minuten dauert. Virtuos fängt diese Plansequenz den erst gelösten, dann brüsken Wechsel der Stimmungen ein. Es liegt eine ästhetische Zuversicht in dem Schweben, mit dem die Kamera auf Anspannung, Ermutigung und Schmerz reagiert. Aber die Geschlossenheit dieser Bewegung ist vergeblich, an ihrem Ende stehen Verzweiflung und Entzweiung. Martha und Sean trauern auf unterschiedliche Weise: Seine Hilflosigkeit schlägt um in latente Aggression, sie scheint zu versteinern. Vanessa Kirby legt einen mutigen Sarkasmus in ihre Figur, die bezwingend changiert zwischen An- und Abwesenheit. Nun, wo sie sich am meisten brauchen, finden sie keinen Zugang mehr zueinander. Die Fürsorge der dominanten Mutter besiegelt die Spaltung. Elizabeth ist eine Spezialistin fürs Standhalten, seit ihre Geburt in der ungarischen Heimat dem Holocaust abgetrotzt wurde.
Drehbuchautorin Kata Wéber hat gemeinsam mit dem Regisseur eigene Erlebnisse verarbeitet, zunächst in einem Theaterstück und nun als Film; durchaus in kathartischer Absicht. »Pieces of a Woman« hält eherne Konventionen ein, gesteht jeder der drei Hauptfiguren ihren Monolog zu, der ihre je eigenen Gründe offenbart. Nicht nur der Name der Heldin erinnert an »Wer hat Angst vor Virginia Woolf?«.
Zu filmischem Leben erwacht der Film jedoch nicht als wortreiche Zimmerschlacht, sondern dank seiner elegischen Wachsamkeit. Es sind die verschwiegenen Momente, in denen das Gewicht des Schmerzes spürbar wird. Dieses Drama des spirituellen Überlebens mutet sehr amerikanisch an und hat doch tiefe ungarische Wurzeln. »Pieces of a Woman« hält eine heikle Balance zwischen Über- und Unterwältigung. Die eingangs zitierten, schwerlastigen Metaphern schultert er erstaunlich leicht. Am 3. April ist die Brücke fertig, und zwei Hände berühren einander, von denen man es nicht erwartet hätte.
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