Kritik zu Vitalina Varela
Mit Dunkelheit leben: Pedro Costa reflektiert in seinem elegischen Film anhand des Lebens einer kapverdischen Frau über Portugals von Sklaverei und Kolonialismus, Klassenherrschaft und Glauben geprägte Geschichte
Nach 27 Minuten schleichen sich Tageslichtstrahlen in den Bildraum, doch auch sie verheißen nichts Gutes. Sie fallen durch eine halb offene Tür, durch die die Kondolenzgäste ins Haus treten, um Vitalina Varela Beileidsbekundungen für den verstorbenen Ehemann Joaquim auszusprechen. »Du kommst zu spät, das Begräbnis deines Mannes war vor drei Tagen. Hier in Portugal gibt es nichts für dich. Sein Haus gehört dir nicht. Geh zurück nach Hause«, waren die Begrüßungsworte am Lissabonner Flughafen. Vierzig Jahre hat Vitalina auf das Flugticket von den Kap Verden nach Portugal gewartet. Vor Jahren hat der Mann sie in der ehemaligen portugiesischen Kolonie ohne ein Wort verlassen, jetzt ist er tot und Vitalina sammelt die Scherben seines und ihres Lebens in seinem heruntergekommenen Haus in der Fremde auf.
Pedro Costas »Vitalina Varela« ist ein düsterer Brocken von einem Film, in inhaltlicher wie in ästhetischer Hinsicht. Der das Kino als Kunstform zelebrierende portugiesische Filmemacher lotet in seinem neuen Drama die Dunkelheit in all ihrer Komplexität aus. Nacht, überall Nacht, jedes Bild von Kameramann Leonardo Simões ist ein auf den Punkt ausgeleuchtetes Gemälde, der Vorort, in dem der Film spielt, die Bild gewordene, undurchsichtige Topografie der Armut. Zwischendrin Akzente in Primärfarben: eine blaue Tür, eine leuchtend gelbe Warnweste – Teile jener Geschichte um Joaquim, die Vitalina zu rekonstruieren versucht.
Eindrücklich schält sich das Gesicht Varelas aus der Dunkelheit. Es ist selbst ein Gemälde voller Geschichten, unvergesslich im Profil vor dem Spiegel oder hinter dem vergitterten Fenster der Dusche. Nachdem Costa die nicht professionelle Schauspielerin bereits in seinem Drama »Horse Money« in einer Nebenrolle besetzte, widmet er der kapverdischen Frau hier eine filmkünstlerische Reflexion über ihr eigenes Leben. Am Drehbuch hat Costa gemeinsam mit Varela gearbeitet. Beim Filmfest in Locarno gewann der Regisseur den Goldenen Leoparden, Varela wurde als beste Schauspielerin ausgezeichnet.
»Vitalina Varela« ist ein gespenstischer Totentanz in Zeitlupe. Es wird leise und wenig gesprochen, die Schauspieler zelebrieren in teils theaterhaft schockgefrosteter Monotonie eine Choreographie der Trauer. Der Film ist so in sich versunken und ruhig, dass das Geräusch des Flugzeugs, mit dem die Witwe landet, das Trommelfell penetriert. Allein das Zittern der Hände des Pastors, der die Trauerrede für Joaquim gesprochen hat, sorgt für nervenaufreibende Unruhe im Bildraum. Der Mann trägt unüberwindbare Trauer in sich. »Du hast deinen Mann verloren und ich meinen Glauben in der Dunkelheit«, sagt er einmal. Hoffnung sucht man bei ihm vergebens.
Elegisch geht es von Einstellung zu Einstellung, streng in der Form, dabei allerdings vieles tangierend. Zuvorderst hat Costa einen Film über eine Frau gemacht, die zum Porträt vieler Frauen wird: als Macherin, als diejenige, auf deren Schultern die Fahrlässigkeiten der marodierenden, narzisstischen Männer lasten. »Das Gesicht einer Frau im Sarg verrät ihr Leiden nicht«, sagt Vitalina einmal. Ihre Geschichte ist zugleich die einer Migration und eine Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe Portugals. Kein Kolonialreich Europas hatte länger Bestand. Die kolonialen Geister und die Geschichten kapverdischer Immigranten sind ein roter Faden im Werk des Regisseurs.
Was also machen in einem unbekannten Land mit fremder Sprache, in dem man nicht erwünscht ist und in dem sogar im Gotteshaus kein Licht zu finden ist? Vitalina rechnet in meditativer Ruhe mit Joaquim ab. Sie spricht ihn direkt an, den Koch, Maurer und Elektriker, den sie 1982 geheiratet hat, der gesoffen und anderen Frauen nachgestellt hat, nachdem die beiden mit eigenen Händen in glücklichen 45 Tagen ein eigenes Haus gebaut haben. Es ist ein Dialog mit ihrer persönlichen und zugleich mit der gesellschaftlichen Vergangenheit und Finsternis. Die Helligkeit und Klarheit des Tages, auf die man sehnlichst wartet und mit der man dennoch nicht rechnet, raubt einem schließlich fast den Atem.
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