Kritik zu La Vérité – Leben und lügen lassen

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In seiner ersten nicht-japanischen Produktion nimmt Hirokazu Kore-eda das Genre der französischen Ensemblekomödie auf, mit viel Sinn für Selbstreflektion und einer grandiosen Catherine Deneuve im Zentrum 

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Die Schauspielerin Fabienne (Catherine Deneuve) hat gerade ihre Autobiografie veröffentlicht. »La Vérité«, die Wahrheit, lautet der Titel. Ihre Tochter Lumir (Juliette Binoche) wirft einen Blick darauf und ist entrüstet: Mama hat Fakten nach Belieben zurechtgebogen. Doch ihr Protest perlt wirkungslos ab. In der Welt des gefeierten Leinwandstars ist Wahrheit ein dehnbarer Begriff.

Der Themenkomplex, den der Autorenfilmer Hirokazu Kore-eda in seiner ersten außerhalb Japans realisierten Produktion umkreist, erscheint auf den ersten Blick nicht originell. Die gealterte Leinwandgöttin Fabienne in ihrem Palast am Pariser Stadtrand erinnert an den Stummfilm-Star in Billy Wilders »Sunset Boulevard«. Auch Vexierspiele um Fiktion und Realität, bei denen man in den Maschinenraum des Kinos blickt, hat man schon gesehen. 

Auf den zweiten Blick allerdings entfaltet Kore-eda trotz dieser Versatzstücke eine hypnotische Wirkung. Leinwandgöttinnen, so das beiläufig angestimmte Grundthema, haben im Vor- und Nachnamen dasselbe Initial: Anouk Aimée, Danielle Darrieux, Greta Garbo – sind sie nicht alle das, was die Feministin Laura Mulvey einst als passive Objekte männlicher Blicke bezeichnete? Kore-eda bestätigt diese populäre These. Doch er stellt sie zugleich vom Kopf auf die Füße, und zwar in Gestalt seiner schillernden Hauptfigur, die alles andere als ein willenloses Objekt männlicher Blicke ist. So gibt Catherine Deneuve eine mehr als nur launische Diva. Ihre Schrullen kultiviert sie mit dem Wissen, dass jeder ihrer Ticks ein seelisches Kunstwerk ist, inszeniert für die Leinwand des Lebens. Eine Autobiografie? Für Fabienne ist das vermeintliche Privatleben nur eine weitere Rolle, die sie gerade spielt. Fabienne selbst? Diese Person gibt es nicht. Die Schauspielerin, die sich auch im Alltag wie vor einer Kamera verhält, ist eine leere Hülle. 

Der Film verknüpft die im Titel gestellte Problematik der Wahrheit und der Fiktion mit der Frage nach der Schauspielerei als Handwerk. Dieses kulminiert jedoch in einer prekären Lebensform. Fabienne, die ausdauernd raucht und trinkt, saugt alle um sich herum aus wie ein Vampir. Ihr schattenhafter Liebhaber, der sie bekocht, ihr Exmann, den sie in eine Schildkröte verwandelte, ihr Sekretär, der ihr 40 Jahre den Rücken freihielt, um als Dank dafür in der Bio der Diva verschwiegen zu werden, und auch Lumirs Ehemann Hank (Ethan Hawke), ein trockener Alki, der erst einmal abgefüllt wird: All diese Männer, mit denen Fabienne sich in ihrer stilvoll verwitterten Villa umgibt, verhalten sich eher wie Frauen. Das heißt: Sie werden dazu genötigt, Gefühle zu entblößen, die Fabienne absorbiert, um die »Wahrheit« darstellen zu können.

Lumir, zurückhaltend gespielt von Juliette Binoche, hat ihre Schauspielkarriere in den Sand gesetzt und wird entsprechend von ihrer Monster-Mama verachtet. Ihr Kampf um die Liebe der selbstsüchtigen Virtuosin erinnert an Ingmar Bergmans »Herbstsonate«. Doch die seelischen Abgründe der verzweifelten Tochter – gespiegelt in der Backstory eines Films im Film, dessen verschachtelte Anspielungen sich erst in der zweiten Sichtung erschließen – lässt Kore-eda jeweils nur in gedämpften Moll-Akkorden anklingen. So begreift Lumir allmählich, wie sie als Drehbuchautorin ihrer Mutter Worte in den Mund legen und sie so mit ihren eigenen Waffen schlagen kann. 

Was in der Nacherzählung wie eine verkopfte Metafiktion anmutet, überzeugt als unaufgeregte Mischung aus (Familien-)Drama und märchenhafter Komödie. Der japanische Regisseur, der die Regie am Set mit Dolmetscher führte, trifft in seinem Kammerspiel den Tonfall eines typischen, vielleicht allzu typischen französischen Films – ohne dass es künstlich oder aufgesetzt wirkte. Der Film, eine entspannte Feier alltäglicher Banalität, ist eine unwiderstehliche Hommage an die sphinxhafte Deneuve, die lustvoll mit ihrem Image spielt und mit jeder noch so beiläufigen Geste ein Universum doppelbödiger Anspielungen eröffnet.

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