Missbrauch in der Kirche – Hinter geschlossenen Türen
»Gelobt sei Gott« (2018). © Pandora Film Verleih
François Ozon rekonstruiert in »Gelobt sei Gott« einen Missbrauchsskandal im katholischen Frankreich. Das Problem ist virulent – seit einigen Jahren auch im Kino. Gerhard Midding stellt die eindringlichsten Filme über die unheimliche Macht der Kirche, über sexuelle Gewalt und ihre Vertuschung vor
François Ozons »Gelobt sei Gott« handelt vom Wort, dem beschwichtigenden, ausweichenden, verschleiernden, verdrängten, dem wohlüberlegten und endlich befreiten Wort. Aber er beginnt mit einer Geste. Von der Basilika aus segnet Kardinal Barbarin die Stadt, indem er seine Monstranz hoch über sie gen Himmel erhebt.
Dieses Ritual vollzieht der Kardinal in Lyon Jahr für Jahr. Üblicherweise sind bei dem Ereignis auch der Bürgermeister, Ratsmitglieder, weitere Vertreter der Kurie und die Presse zugegen. Aber Ozon filmt Barbarin allein. Ihn fasziniert und verstört die Symbolkraft seiner Geste. Der französische Fachbegriff für diese Segnung lautet mainmise; als Übersetzung bieten die meisten Lexika »Beherrschung« an. Aber auch ohne Hilfe des Wörterbuchs ist der Akt unmissverständlich. Er ist eine Geste der Macht. Man muss kein Atheist sein, um sie anmaßend und obszön zu finden.
Lyon, die Wiege des französischen Katholizismus, spielt gewissermaßen die vierte Hauptrolle in »Gelobt sei Gott«. Die Topografie der Stadt kündet von Hierarchien, von Geheimnis und Verbergen. Während der deutschen Besatzung fanden die Mitglieder der Résistance oft rettenden Unterschlupf im Labyrinth der ortstypischen, kompliziert ineinander gestaffelten Hinterhöfe. Den Bewohnern der Stadt sagt man gern nach, sie seien verschwiegener als der Rest der Franzosen.
Für viele Beobachter ist klar, dass der Skandal um den jahrzehntelang fortgesetzten Kindesmissbrauch des Priesters Preynat und der Skandal seiner Verheimlichung sich in dieser Weise nur hier zutragen konnten: in einem geschlossenen System, das sich auf eine Jahrhunderte alte Tradition berufen kann. Der Film von FranÇois Ozon brandmarkt den Ort nicht. Aber er schaut genau auf die Mechanismen der Macht, die in ihm wirken.
Über Boston, so wie Tom McCarthy es in »Spotlight« zeigt, ließen sich ganz ähnliche Aussagen treffen. Es brauche nicht nur ein Dorf, um ein Kind großzuziehen, sagt ein Opferanwalt in Anlehnung an den Titel von Hillary Clintons Bestseller, sondern auch ein Dorf, um es zu missbrauchen. Die Kirche erfahre hier alles, sagt er an anderer Stelle, und sie kontrolliere alles, was geschehe und an die Öffentlichkeit komme. Alles, wiederholt er.
Das klingt wie ein Satz aus einem Paranoia-Thriller. Aber er erweist sich als eine besonnene, erfahrungsgesättigte Analyse der lokalen Verhältnisse. McCarthys Inszenierung beglaubigt sie. Es gibt nur wenige Totalen in den Außenszenen, in denen keine Kirche zu sehen ist. Die Kamera erkundet eine Topografie der Nähe, der Überschaubarkeit. Täter und potenzielle Opfer leben bisweilen nur ein, zwei Straßen auseinander. Als eine Reporterin des »Boston Globe« ein Missbrauchsopfer interviewt, fällt diesem beim Spaziergang durch einen Park voller Schrecken auf, dass dort ein Spielplatz liegt – gleich neben einer Kirche.
Es braucht wohl auch einen Außenseiter, um den undurchdringlichen Zusammenhalt des katholischen Gemeinwesens aufzulösen. Der Opferanwalt hat armenische Wurzeln, und der neue Chefredakteur des »Globe«, der den Impuls zu den Recherchen des »Spotlight«-Teams gibt, ist ein Jude aus Miami. 53 Prozent der Leser seien Katholiken, gibt man ihm zu bedenken. Dann müsse es sie besonders interessieren, was in ihrer Kirche vorginge, erwidert er. So lehrt er auch die eingesessenen Reporter, ihre Stadt mit anderen Augen zu sehen. Ohne den Schauplatz zu verlassen, weitet sich ihr Blick schließlich für die umfassenden Dimensionen, die der Missbrauch durch pädophile Priester in den USA und weltweit hat.
In dem Kommissariat, auf dem die mutmaßlichen Opfer des Priesters Preynat in »Gelobt sei Gott« ihre Aussage machen sollen, hängt ein Plakat von »Spotlight«. Das ist kein bloßer cinephiler Verweis, sondern ein ästhetisches Bekenntnis. Ozons Film schlägt denselben umsichtigen Erzählton an. Seine Detailgenauigkeit ist jenem journalistischen Ethos verpflichtet, das die »Globe«-Reporter unaufhörlich nachhaken lässt – »belästigt« genügt ihnen nicht, die Anschuldigung muss die Geste exakt beim Wort nennen – und das McCarthys inszenatorische Wachsamkeit schärft.
Das Drehbuch von Pedro Almodóvars »La mala Educación – Schlechte Erziehung« ist wie ein Mosaik der Beichten konstruiert. Nicht allen darf man Glauben schenken, aber sie haben den Vorzug, dass sich meist die Täter den Opfern offenbaren müssen. Im Kern erzählt Almodóvar von der Schülerliebe zwischen Ignacio und Enrique, die von dem pädophilen Pater Manolo verraten wurde. Ein tiefer Riss geht seither durch ihre Leben. Ignacio wurde drogensüchtig, prostituierte sich und erpresste schließlich den Pater. Enrique wurde Filmemacher, was ja auch eine Art ist, Vergeltung am Leben zu üben. Almodóvar hält säkularen Abstand zur Kurie, filmt die Soutanenträger wie Kinogangster und unterstreicht die Janusköpfigkeit ihrer frommen und weltlichen Existenz, indem er Manolo in den Rückblenden und der Gegenwartsebene mit zwei völlig unterschiedlich aussehenden Schauspielern besetzt. Er ermutigt das Publikum, den Bildern nicht zu trauen, bleibt aber unmissverständlich in seinem Plädoyer gegen den Pater: Nein, ein zehnjähriges Kind liebt man nicht, man bedrängt es und missbraucht es.
Die unverhohlen säkulare Ausrichtung kirchlicher Institutionen ist auch ein zentraler Befund von Marc Brummunds »Freistatt«. Das gleichnamige Erziehungsheim, eine Außenstelle der Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel, zeigt er als einen Hort der schwarzen Pädagogik. Dort herrscht nicht fromme, sondern militärische Disziplin: ein Sittenbild der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit. Als Anklage der institutionellen Gefährdung des Kindeswohls, als klammes Panorama von Züchtigung und Ausbeutung, ist der Film das protestantisch-norddeutsche Gegenstück zu Peter Mullans »Die unbarmherzigen Schwestern«. Die kirchliche Trägerschaft ist eine bloße Kulisse, um das betriebswirtschaftliche Raffinement der Heimleitung über jeden Zweifel zu erheben. Judith Kaufmanns Kamera zieht der sommerlichen Idylle mit verstörenden Überbelichtungen und grellen Primärfarben einen zweiten Boden ein. Pädophilie spielt nur eine untergeordnete Rolle, die Verrohung findet andere Terrains. Eigentlich ein Gefängnisfilm, mit sadistischen Wärtern, diversen Fluchtversuchen und der sachten Hoffnung auf Freundschaft und Solidarität.
Der Zweifel, predigt Pater Flynn ein Jahr nach der Ermordung John F. Kennedys, kann eine so starke Kraft wie die Gewissheit sein. Der Priester ist durch die Schule der Aufklärung gegangen; sein weltoffenes Charisma und seine progressiven Ideen machen ihn beliebt in der kleinen Gemeinde in der Bronx. In Schwester Aloysius Beauvier hat er eine mächtige Widersacherin. Die Direktorin wacht wie ein Drache über die Sittsamkeit in der katholischen Schule. John Patrick Shanley inszeniert seine eigene Bühnenvorlage »Glaubensfrage« als ein Schauspielerduell (Meryl Streep gegen Philip Seymour Hoffman) mit Beißhemmung. Der Konflikt wirkt historisch entrückt – ihre Nonnentracht gemahnt noch an das 17. Jahrhundert, und sie ist überzeugt, dass der Gebrauch von Kugelschreibern nicht nur die Schrift, sondern auch die Moral verdirbt –, ihm sind genug Ambivalenzen eingezogen, um nicht die Kirche, sondern individuelle Bigotterie anzuklagen. Die Fürsorge, die der Pater dem einzigen schwarzen Schüler angedeihen lässt, ist ihr verdächtig. Sie ist eine geschickte Inquisitorin. Aber dieser Drache wacht nicht über das Wohl seiner Schutzbefohlenen, sondern will die Institution von einem unliebsamen Vertreter reinigen. Die verkanteten Einstellungen zeigen eine Welt, die aus den Fugen geraten ist, extreme Aufsichten verweisen auf eine göttliche Perspektive, die keinen Trost verheißt. Ist es ein Indiz ihrer Läuterung, dass Schwester Aloysius am Ende Zweifel kommen?
Pablo Larraíns Kino handelt vom Fluch der Straflosigkeit. Die Sühne, die den Priestern in »El Club« für ihre Verfehlungen auferlegt wird, ist die Isolation: Sie sind in ein Haus an der chilenischen Küste verbannt, um dort ein »heiliges Leben« (das Wort fällt immer wieder) zu führen. Das Haus, das die Kamera in mulmig wechselndes Monochrom taucht und dessen Umgebung durch Filter entrückt wird, soll ein Ort der Zuflucht, des Gebets, des Nachdenkens und der Vergebung sein. Als solcher ist er der Kirche teuer. Bisher drückte die Kurie ein Auge zu, wenn die Bewohner ihre Tage mit dem Wetten auf Hunderennen zubrachten. Nach dem Selbstmord eines Neuankömmlings kommt ein junger Seelsorger in den Kreis, der Erfahrung in Krisenbewältigung besitzt.
Sein Auftrag reicht indes weiter. Sein Gebaren erinnert an das eines Unternehmensberaters, der einen Betrieb abwickeln soll. Hartnäckig fordert er die Verbannten auf, ihre Vergehen zu beichten, die sich zu einem Mikrokosmos chilenischer Zeitgeschichte verdichten. Einer der Bewohner war als Militärkaplan ein Mitwisser von Folter und politischen Morden. Das Schuldbewusstsein ist gering. Der pädophile Priester, von dem er Gehorsam für die Institution verlangt, die ihn schützt, begreift sich noch immer als deren Stellvertreter. Die wahre Bedrohung dieser Enklave stellen jedoch die Auftritte eines Fischers dar, der als Kind missbraucht wurde. Tag für Tag sucht er das Refugium heim und trägt lauthals eine Litanei der Vorwürfe vor, deren obszöne Anschaulichkeit schwer zu ertragen ist. Unvorstellbar, dass einem Einzigen so viel Pein zugefügt wurde? Er ist das universelle Opfer, das das Leid der anderen auf sich nimmt, ein unerlöster Schmerzensmann. Wer von der Kirche erzählt, tut nicht schlecht daran, in Gleichnissen zu sprechen.
Auch die drei Provinzpriester, die im Zentrum von Wojciech Smarzowskis »Kler« (»Klerus«) stehen, sind erfahrene, hingebungsvolle Sünder. Der Regisseur stellt sie uns als fluchende, lästernde, geldgierige Trunkenbolde vor. In dieser anstößigen Dreifaltigkeit steht jeder für eine eigene Spielart von Verworfenheit: Bruch mit dem Zölibat, Pädophilie und Hoffart. Indes ist »Klerus« kein Hohelied der Niedertracht, sondern das wütende Pamphlet gegen eine Institution, die spirituell ausgehöhlt ist und sich in Polen als Staatsmacht geriert. (Der Film musste in Tschechien gedreht werden.) Smarzowksi urteilt nicht leichthin über seine Charaktere; er lässt ihnen, nicht ohne trotzige Zuversicht, erzählerische Entscheidungsfreiheit. Der Priester, dessen Geliebte nicht abtreiben will, weil es unvereinbar mit ihrem Glauben ist, sucht einen Ausweg. Der des Kindesmissbrauchs verdächtige Priester versucht, sich vor seiner Gemeinde zu rehabilitieren. Der Dritte besitzt eine machiavellistische Gerissenheit, die ihm eine rasante Karriere im Vatikan ermöglichen wird.
Smarzowski entwirft das Bild einer Organisation, deren Strukturen, Hierarchien und Machenschaften sich gründlich säkularisiert haben. Er stellt ihre Legitimation unerbittlich infrage, nicht aber den Glauben seiner Landsleute: Die Beichten filmt er als Hilferufe, auf die diese Kirche keine Antwort mehr weiß. Fast jeder fünfte Einwohner Polens hat »Klerus« bislang gesehen. Ein unwillkommener Blockbuster: Auf eine Stellungnahme der Kirche musste die Öffentlichkeit eine halbe Ewigkeit warten.
Es müsste eine Form der Erlösung am Ende dieser Geschichten geben, zumindest eine innere Freiheit, zu der die Opfer gelangen. Ozon ist ein Filmemacher der Ermächtigung. Sein erster Protagonist, der praktizierende Katholik Alexandre, muss erfahren, dass seine Kirche an Aussöhnung nur nach ihren eigenen Regeln interessiert ist. Dass sie ein geschützter Raum vor allem für die Täter zu sein scheint, musste Ozon nach dem Start von »Gelobt sei Gott« feststellen. Vorsichtshalber drehte er ihn nicht unter dem Originaltitel: »Grâce à dieu«. Das hätte sofort den Widerstand der katholischen Kirche geweckt, denn seit der Pressekonferenz, auf der Kardinal Barbarin seiner Erleichterung darüber Ausdruck verlieh, dass die Verfehlungen des Priesters Preynat verjährt seien, ist der Ausruf zu einem traurig geflügelten Wort geworden. Die Beschuldigten strengten Klagen gegen die Nennung ihrer Namen an. Die betreffenden Passagen des Drehbuchs beruhen indes auf ihren Einlassungen vor der Justiz und in der Öffentlichkeit – es erschien Ozon heuchlerisch, Identitäten zu verschleiern, die durch die Medien bekannt seien. Das Prinzip seines Films ist es, die Opfer zu schützen.
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