Spuren, die nicht verwehen durften
Die junge Frau wusste genau, was wir im Schilde führten. Sie wohnte lange genug in diesem Haus, um die Absichten neugieriger Touristen zu kennen. "Dies ist kein Museum", sagte sie empört, während sie die Tür energisch hinter sich verschloss, "hier wohnen Menschen!" Ihr Englisch war akzentfrei. Auch sonst hatte sie Recht.
Was hatten wir überhaupt gehofft, hier vorzufinden? Wir wussten ja nicht einmal, in welcher Etage Oskar Schindlers Wohnung einst gelegen hatte. Unser Begehr war so naiv wie unverschämt. Wir wollen einfach für einen Moment in dem stolzen Patrizierhaus den Genius des Ortes spüren, von dem wir glaubten, ihn aus dem Kino zu kennen. Bis uns die resolute Dame in die Schranken wies, wähnten wir unsere Schaulust unschuldig. Sie jedoch rief uns in Erinnerung, dass in dem weiträumigen Apartment jetzt Menschen wohnten, die ein Anrecht auf Privatsphäre hatten. Die Adresse, in der Schindler während seiner nun berühmten Zeit in Krakau gewohnt hatte, ist in einschlägigen Reiseführen nachzulesen. Aber die Nachscham gebietet es mir, sie nicht zu nennen.
Dabei bildeten wir uns ein, nicht wie frivole Touristen aufzutreten. Wir wollten unsere Mission, die Drehorte von Steven Spielbergs Film zu erkunden, sorgfältig erfüllen. Es passte, dass es nun Herbst und die Stadt grau war. Ganz bewusst hatten wir keine der "Schindlers Liste"- Touren gebucht, die am Marktplatz und anderswo im Zentrum angeboten wurden. Das Angedenken folgt keiner Route, die sich in ein, zwei Stunden bewältigen lässt. Wir wollten die Orte nicht abhaken, sondern an ihnen innehalten. Wir erwarteten nicht, dass sie ein Geheimnis preisgeben würden. Mich interessierte jedoch, aus welchem Blickwinkel Janusz Kaminskis Kamera die Schauplätze eingefangen hatte, um das unsagbare Leid der polnischen Juden zu vergegenwärtigen. Aber half uns das, zu begreifen?
Auch wenn unser Blick vielleicht kein touristischer war – eher ein ästhetischer und hoffentlich auch ein taktvoller -, bewegten wir uns auf ausgetretenen Pfaden. Krakau ist in Sachen „Schindler's Liste“ ziemlich umfassend erschlossen. Natürlich besuchten wir die ehemalige Emaillewarenfabrik in der Lipowastraße 4, auf die Itzak Stern den deutschen Glücksritter hinweist. Sie ist tatsächlich ein Museum, das sich einerseits allgemein dem Schicksal der polnischen Juden in der Nazizeit widmet – an einer Station ist die Stimme Roman Polanskis zu hören, der der Verfolgung ins Umland entkam -, aber ansatzweise auch versucht, den Betrieb von Schindlers Fabrik zu rekonstruieren. Das Büro der Sekretärin wirkte leer und abstrakt. Die Produktionshallen konnte man nicht besichtigen, was schade war, weil Spielberg sie mit enormer topographischer Prägnanz als eine getrennte, visuell aber eng angebundene Sphäre in Szene setzt. Im Museumsshop kaufte ich zwei Kaffeebecher, einen für mich, den anderen als Mitbringsel. Der Beschenkte fand ihn nicht sehr praktisch, denn der Emaillegriff bleibt lange heiß.
Am selben Tag fuhr uns die polnische Freundin, die wir in Krakau besuchten, hinaus nach Auschwitz. Jozefa behauptete, sie sei schon hundertmal dort gewesen. Ihr verstorbener Mann war ein Deutscher, der seinen Geschäftspartnern diese Erfahrung nicht ersparen wollte. Es war ein Montag, wo der Besuch von Museen in Polen eintrittsfrei ist. Wir mussten nur bis zum Nachmittag warten. Ich war zuerst enttäuscht, weil man nicht den Bahnhof besuchen kann, der seit Alain Resnais' »Nacht und Nebel« ein emblematisches Bild geworden ist, welches »Schindlers Liste« aufgreift. Touristen können sehr töricht sein. Als wir dann das KZ betraten, unter dem entsetzlichen Torbogen hindurchgingen, war Spielbergs Film sehr weit weg. Was wir dort empfanden, hatte wenig mit Kino zu tun.
So weit es ging, drehte Spielberg damals an Originalschauplätzen. Szenenbildner Allan Starski fand, dass sich in den fünf Jahrzehnten danach nicht viel verändert hatte. Nachbauen musste er praktisch nur das Arbeitslager von Plaszów und die Villa von Amon Goeth, die er im Film partout nicht als solche bezeichnen mag. Sie war restauriert worden. Aber zu ihr wollten wir nicht gehen, obwohl in der Stadt alles nah beieinander liegt. Uns interessierte, wo sich das jüdische Leben zutrug und wo es seine Todeswege beschritt. In Podgórze, wo die Nazis das Ghetto errichteten, stehen heute meist Nachkriegsbauten, die hoch aufragen. Als Mahnmal dient ein Platz, dessen Leere klug vom Verschwinden erzählt. Die berühmte Apotheke, in der man gefälschte Papiere bekommen konnte, liegt an seinem Kopfende. Sie ist ebenfalls ein Museum. Es ist eng darin, es erzählt konzentriert Schicksale.
Den Exodus über die Pilsudski-Brücke filmte Spielberg 1993 in der falschen Himmelsrichtung. Andernfalls wären die Neubauten von Podgórze ins Bild gekommen. Beim Wiedersehen des Films fiel mir auf, dass er die Szene in einer Halbtotalen drehte, um so die Umgebung noch besser aussparen zu können. Wir wohnten auf der anderen Seite der Weichsel, in Kasimierz, das für einige Jahrhunderte der jüdische Bezirk Krakaus gewesen war. Unser Hotel lag am Ende der Szerokastrasse, wo ein Gutteil der Ghettoszenen entstand. Für Spielberg und sein Team hätten die zehn Zimmer nicht gereicht; sie wurden in einem modernen, repräsentativen Hotel untergebracht. Als Drehort diente das "Klezmer-Hois" damals nicht, dafür aber ein Restaurant in der Nachbarschaft. Dort entstand die Sequenz, in der Schindler die Bekanntschaft zu Nazi-Größen sucht, während im Hintergrund überraschend ein Tango von Carlos Gardel erklingt.
Aber Spielberg, Liam Neeson und Ben Kingsley hatten das Restaurant in unserem Hotel besucht. Sein Gründer, Leopold Kozlowski, spielte eine zentrale Rolle bei der Wiederbelebung der Klezmer-Tradition. Er hat einen Auftritt im Film: als einer der jüdischen Investoren Schindlers, zu denen Itzak Stern den Kontakt herstellt. Im Speisesaal hängt ein signiertes Porträt von Spielberg und seiner Frau Kate Capshaw, die Kozlowski ein langes (ich glaube, sogar ewiges) Leben wünscht. Nun führen sein Sohn und seine Tochter das Hotel. Dort gibt es einen winzigen Buchladen, den der Sohn betreibt, der ebenfalls Leopold heißt. Er leitet auch einen Verlag mit einem illustren Programm, den er nach dem Roman von Julian Stryjkowski "Austeria" getauft hat. Er freute sich, deutsche Gäste zu beherbergen, die immerhin die Verfilmung von Jerzy Kawalerowicz kannten. Er beschenkte uns reich, mit schön gestalteten Notizbüchern, einem Album zu Andrzej Wajdas Bühneninszenierung von »Der Dybbuk« und einer DVD über seinen Vater. Gern hätte er uns noch mehr von seiner Familie und den Dreharbeiten berichtet, aber in Krakau fand gerade eine wichtige Buchmesse statt. Ein Bestseller in seinem Buchprogramm sind übrigens die Erinnerungen einer Frau, die sich in der Figur des kleinen Mädchen im roten Mantel wiedererkannte, das im Film getötet wird, in der Realität aber überlebte. Leopold Kozlowski vertrat, wohl auch berufsbedingt, die Ansicht, dass nicht erst Spielbergs Film, sondern bereits der Roman von Thomas Keneally die enorme touristische Entdeckung von Kasimierz ausgelöst hatte.
Davon war in diesem Oktober zum Glück nicht viel zu spüren. Verschlafen wirkte das Viertel nicht – es herrscht wieder jüdisches Leben-, aber wir genossen das Fehlen von Lärm und Trubel. Alle Drehorte, die wir aufsuchen wollten, lagen in unmittelbarer Nähe. Einige passierten wir mehrmals am Tag: etwa die Cienmastraße, wo Poldek Pfefferberg plötzlich Amon Goeth begegnet und sein Leben rettet, weil er geistesgegenwärtig behauptet, er müsse die Leichen der Juden zusammenräumen. Wir hatten auch keine Schwierigkeiten, den Innenhof in der Jozefastrasse zu finden, wo die Deportation beginnt. Warum waren wir überrascht, dass er viel schmaler und enger wirkte als im Kino? Ich meinte sogar, den Verschlag unter der Treppe wiederzuerkennen, in dem Frau Dresner und ihre Tochter Danka sich vor den Soldaten verstecken. Adam, der treue Schulkamerad Dankas, entdeckt sie und bringt sie in ungewisse Sicherheit. Ich glaube, der Hof war das eigentliche Zentrum unserer Suche. Er hatte sich seit den Dreharbeiten kaum verändert. Nur der Biergarten eines Lokals war hinzugebaut worden und ließ den hinteren Ausgang noch enger wirken. Es war gut möglich, dass hinter den Türen und Fenstern in den oberen Stockwerken wieder Menschen wohnten. Aber wir stiegen nicht die Treppe hinauf, um nachzuschauen. Dazu fehlte uns der Mut.
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