Kritik zu The Rider
Über das Mannsein im »American Heartland« von heute: Independent-Regisseurin Chloé Zhao erzählt in ihrem Neo-Western von einem gefeierten Rodeo-Star, der nach einem Unfall nie wieder reiten darf
Wenn Brady (Brady Jandreau) nach rund 30 Minuten in einem Supermarkt Regale einräumt, könnte das Fremdkörpergefühl kaum größer sein. Er ist, das hat »The Rider« zuvor eindrücklich gezeigt, ein Cowboy, mit jeder Faser. Natur, Pferde und insbesondere das Rodeo sind seine Welt. Regisseurin Chloé Zhao steckt diesen archaisch anmutenden Kosmos mit einem dermaßen empathischen Blick ab, dass der Moment im Supermarkt einfach im Magen drückt: der Naturbursche, dessen Gesichtsausdruck fast durchweg von Trauer zeugt, gezwungenermaßen in einem Konsumtempel, in der leibhaftigen Antithese seines geliebten »alten« Lebens.
Das bestand im Kern aus Rodeo-Reiten. Brady ist ein gefeierter Star in der Szene, bis ein beinahe tödlicher Sturz ihn, so zumindest die Meinung der Ärzte, endgültig aus jeglichem Sattel reißt. Die monströse Narbe an seinem Kopf, unter der eine Metallplatte den Schädel zusammenhält, spricht ebenso wie die plötzlich auftretenden Verkrampfungen der rechten Hand dafür, dass er den Sattel wirklich an den Nagel hängen sollte. Aber wie das so ist, wenn Vernunft und Leidenschaft aufeinanderprallen: Letztere loszulassen ist ein steiniger Weg. Von diesem Weg, vom Verlust des Lebenszentrums, erzählt Chloé Zhao in ihrem zweiten Langfilm »The Rider«.
Thematisch und formal knüpft sie an ihr gefeiertes Debüt »Songs My Brothers Taught Me« um zwei Sioux-Geschwister in einem Indianerreservat an. Wieder wehen Reminiszenzen an den oft totgeglaubten Western mit, und wieder arbeitet Zhao mit Laiendarstellern, die sich mehr oder weniger selbst spielen. Ähnlich wie ihr Kollege Sean Baker, der zuletzt in »The Florida Project« vom Leben am Rande des amerikanischen Traums erzählte, taucht auch Zhao in die Milieus ein, saugt sie auf und fängt ihre Geschichten mit poetischem Realismus ein.
Brady Jandreau, dessen wahre Geschichte »The Rider« aufgreift, erweist sich für Zhao als Glücksgriff. Er trägt den Film mit seinem nuancierten Spiel und macht die innere Leere und Zerrissenheit des Jungen glaubhaft. »Ich habe getan, was ich tun musste«, sagt er einmal über den Sturz und bringt damit seine prototypische Sozialisation auf den Punkt. Denn er lebt in einer Welt, in der Männer auf Pferden und in der Rodeo-Arena zu reiten haben und Kautabak kauen. Zhao zeigt all das allerdings nicht als stumpfes Hufgescharre, sondern gewinnt den traditionellen Vorstellungen und dem Umgang der Männer untereinander viele Zärtlichkeiten ab. Und doch sprechen etwa die Blicke der Fans, die im Supermarkt ein Foto mit Brady schießen wollen, von seiner gesellschaftlichen Herabstufung.
So subtil Zhao in diesen Momenten vorgeht, so konsequent baut sie auf starke Kontraste, um Bradys Leben vor und nach dem Sturz herauszuheben. Mit bekannten Motiven zeichnet die Regisseurin den »wilden« Neo-Westen: Es gibt malerische Naturaufnahmen, Szenen, in denen Brady und seine Jungs mit Gitarre und Bier am Lagerfeuer in der Wüste sitzen. Und dann ist da noch Bradys Talent als Pferdetrainer, niemand weit und breit versteht sich so gekonnt darauf, auch die bockigsten Biester zu zähmen. Der Junge ist durchdrungen von einer tiefen Liebe zu den Tieren, deren kastanienbraune Augen wie ein Spiegel seines eigenen Inneren erscheinen.
Auf der anderen Seite stehen Bradys behinderte kleine Schwester, zu der er eine liebevolle Beziehung pflegt, sein desillusionierter Vater und sein Kumpel Lane (Lane Scott), der seit einem Rodeo-Unfall schwerstbehindert im Rollstuhl sitzt. Dass diese doch sehr direkten Bilder nur in wenigen Momenten in Pathos schwelgen und niemals zu einer Plattitüde verkommen, ist Zhaos sensibler Inszenierung zu verdanken. Wie das Tattoo, das Brady sich als Hommage an Lane stechen lässt, ist auch »The Rider« eine liebevolle Hommage und zugleich ein leiser Abgesang auf einen ganz persönlichen Wilden Westen.
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