Kritik zu 12 Tage
Der französische Dokumentarmeister Raymond Depardon begleitet in seinem neuen Werk zehn richterliche Anhörungen von zwangseingewiesenen Psychiatriepatienten – kommentarlos, aber mit entschiedener menschlicher Empathie
Der Film beginnt mit atemlosen dreieinhalb Minuten: Die Kamera schleicht über einen Klinikkorridor, auf der Tonspur ein metallisches Rauschen, ein Mann kommt um die Ecke, eine Ärztin aus einem Zimmer, die Kamera wird überholt. Mit aller Ruhe führt uns Regisseur Raymond Depardon immer tiefer hinein in eine psychiatrische Klinik, mitten ins Herz eines Gegenraumes, den der Philosoph Michel Foucault als heterotopischen Ort »jenseits aller Orte« beschrieben hat. Folgendes Zitat Foucaults stellt Depardon voran: »Der Weg vom Menschen zum wahren Menschen geht über den Verrückten«. Darin steckt so etwas wie die Essenz seines Films.
Nie zuvor hat man solche Bilder aus einer Psychiatrie gesehen, wie Depardon sie in einer Einrichtung in Lyon eingefangen hat. Der Titel bezieht sich auf eine in Frankreich gängige Frist: 12 Tage nach einer Zwangseinweisung müssen die Patienten eine richterliche Anhörung bekommen, die über das weitere Vorgehen entscheidet. Nachdem sich Depardon bereits 1988 in Notaufnahme mit Psychiatriepatienten auseinandergesetzt hat, stehen im Mittelpunkt des in Cannes uraufgeführten Films zehn berührende Anhörungen, die der Regisseur als Erster überhaupt filmen durfte.
Da ist zum Beispiel ein Mann, der Stimmen vom elektrischen Stuhl hört und sich schlecht konzentrieren kann, eine Frau ist so voller Schmerz, dass sie nur noch sterben will. Eine andere Frau wurde bei ihrer Arbeit für den Mobilfunkanbieter Orange dermaßen gemobbt, dass sie zusammenbrach. »Ich bin eine offene Wunde«, sagt sie weinend, kritisiert aber auch das harsche Vorgehen des Klinikpersonals. Die Frage nach Gerechtigkeit klingt in »12 Tage« durchgehend mit. So spricht es etwa für bürokratische Willkür, dass die Richterinnen und Richter keine therapeutischen Kenntnisse besitzen und sich völlig auf die Akten der Ärzte verlassen müssen.
Die meisten Patienten erscheinen zunächst rational, erst nach und nach schälen sich mal mehr, mal weniger krankhafte Züge heraus. Ganz unweigerlich fragt man sich, ob ein Film derlei zeigen darf. Ist es moralisch vertretbar, kranke Menschen in dieser Situation zu filmen? In Depardons Fall lautet die Antwort ganz klar ja, denn sein Blick ist alles andere als voyeuristisch. Er kommentiert nichts und bleibt völlig neutral, agiert dabei aber sehr sensibel und gibt den von der Gesellschaft als wahnsinnig Stigmatisierten ihre Menschlichkeit zurück. Damit bleibt der französische Filmemacher und Fotograf seinem humanistischen Ansatz treu, der sich durch seine Arbeit zieht.
»12 Tage« nimmt auch dem Unort Psychiatrie, der in Klassikern wie »Einer flog über das Kuckucksnest« filmisch alles andere als gut wegkam, etwas von seinem Schrecken. Für kurze Momente verlässt die Kamera den Gerichtsraum, zeigt in nüchternen Bildern eine Fixierungsliege oder Außenansichten. Einmal läuft ein von einem Zaun umgebener Mann immer wieder auf und ab, wie Rilkes Panther.
In dem wahnsinnigen Hamsterrad befinden wir uns ja alle irgendwie. »12 Tage« gibt den davon Überrollten eine Stimme und holt ihren Schmerz aus dem Abseits einfühlsam ans Licht.
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