Ökonomie der Träume
Das Schöne am Reisen ist, dass unsere Pläne mit Sicherheit durchkreuzt werden. Was man sich auf dem Hinweg vorgenommen hat, kann bis zur Rückkehr längst hinfällig geworden sein. Was hätte es auch für einen Sinn sich an einen fernen Ort zu begeben, um dort ein Plansoll zu erfüllen?
Eigentlich wollte ich am letzten Wochenende, pünktlich zum Start der ersten vollständigen Retrospektive seines Werks in Deutschland, an dieser Stelle ein Porträt von Philippe Garrel veröffentlichen. Einige Gedanken hatte ich mir schon zurechtgelegt. Es wäre bestimmt um die Sinnlichkeit gegangen, die er seinem kargen Stil abtrotzt: »Le Vent de la nuit« mit Deneuve, Daniel Duval und Xavier Beauvois wäre dafür ein schönes Beispiel gewesen, schon wegen der großartigen Farbfotografie von Caroline Champetier. Im Gegenzug hätte ich wahrscheinlich auch meiner Bewunderung darüber Ausdruck verliehen, wie glorreich er immer wieder zum Schwarzweiß zurückkehrt. Geschwärmt hätte ich wohl auch von den großartigen Titeln, die er seinen Filmen gab: »Sauvage Innocence«, »Les Baisers de Secours«, »Les Minstères de l'art«, »Le Coeur fantôme« und nicht zuletzt »La Cicatrice intérieure«.
Beinahe hätte ich ihn auch als einen filmischen Vorboten der Autofiktion gescholten, die erst die französische und nun die gesamteuropäische Literatur als zeitgemäßes Modell heimsucht. In den ersten Jahrzehnten mutet sein Werk schließlich radikal autobiographisch an. Die Liebesgeschichten, die er erzählt, sind lebensgeschichtlich hinreichend beglaubigt. Oft dreht er in der eigenen Wohnung. Das wird dann echtes Matratzenkino. Häufig taucht sein Vater Maurice auf (dessen Präsenz mich immer bedrückt) und mittlerweile auch seine Kinder, von denen Louis ja zu einer Art Star avanciert ist. Zu allem Überfluss haben zahlreiche seiner Figuren den gleichen Beruf wie er selbst. Aber dieser Narzissmus ist gar nicht so übel, wie zu erwarten wäre, da Philippe Garrel anständigerweise doch immer wieder den Weg zur Fiktion findet.
Zum ersten Mal erfuhr ich von ihm während meines Studiums. Einer meiner besten Dozenten, Michael Esser, berichtete einmal von einem Filmemacher, dessen Arbeiten bei uns praktisch nie und selbst in seiner Heimat Frankreich nicht immer in die Kinos kämen. Ein solches Märtyrer-Image steht womöglich auch heute noch dies- wie jenseits des Rheins hoch im Kurs. Wer in seine Filme geht, will nicht belogen werden und zieht im Kino auch gern das härene Hemd an. In den Augen der Leute mit dem richtigen Geschmack (im Gegensatz zu Ihnen und mir, die wir mal einen guten, mal einen schlechten haben) ist beispielsweise »Les Amants reguliers« der bessere, authentischere Film über den Pariser Mai 1968 als Bertoluccis »Die Träumer«. Allmählich bin indes auch ich davon überzeugt. Sie merken, das Verhältnis zu diesem Filmemacher kann nicht reizarm sein. Ein wenig ergeht es mir allerdings wie dem amerikanischen Kritiker Jonathan Rosenbaum, der einmal sagte, er wünschte, er würde ihn mehr lieben: wo ihn doch so viele kluge Leute bewundern.
Rosenbaum schrieb auch, Garrels Gesamtwerk habe wahrscheinlich weniger Zuschauer als die Fortsetzung von »American Graffiti« gehabt. Die Rechnung müsste man seither vielleicht redigieren, da Garrel unablässig weiter dreht und »More American Graffiti« ein epochaler Flog ohne Wiedererentdeckungspotenzial geblieben ist. Aber der Vergleich ist von so erhabener Perfidie, dass man ihm eigentlich jede Böswilligkeit absprechen darf. Obwohl er nur einen nennenswerten Publikumserfolg hatte (»Ich höre die Gitarre nicht mehr«), lässt sich Philippe Garrel partout nicht zum Verschwinden bringen. Seine Karriere ist das schlagendste Argument für Großzügigkeit der französischen Filmförderung.
Das bringt mich nun auf mein tatsächliches Thema. Da mir die mitgebrachten gedanklichen Anläufe wenig inspiriert erschienen, las ich in Paris noch einmal das Interview, das Garrel zum Start von »Im Schatten der Frauen« der Zeitschrift »Positif« gab. Es ist eines der erstaunlichsten, das mir in den letzten Jahren untergekommen ist. Auch hier überwiegt anfangs das Autobiographische. Dieser Pakt scheint unaufkündbar. Seinen vorangegangenen Film, »La Jalousie« habe er unmittelbar nach dem Tode seiner Mutter gedreht, die Dreharbeiten zu »Im Schatten der Frauen« begannen kurz nach dem des Vaters. Er deutet die Filme, die er seit 1964 gedreht hat, im Licht einer zweifachen Prägung: Er sieht eine Linie, die der Philosophie seines Vaters folgt (der ein Schauspieler war) und eine andere, die dem Geist der Mutter folgt, die keine Künstlerin war und eine andere Sicht auf das Leben hatte. Nach dem Tod der Eltern fühlte er sich eigentlich außerstande, Dreharbeiten in Angriff zu nehmen. Aber da das Kino nun einmal eine Industrie sei, wollte er sie nicht verschieben.
Diese Stelle ließ mich aufhorchen. In der Folge zeigt sich Garrel als ausgefuchster Ökonom, der das große Ganze und das Kino im Besonderen im Blick hat. Man muss den Kapitalismus schon genau studiert haben, um der Industrie so viele Schnippchen zu schlagen, wie er es im Lauf von fünf Jahrzehnten tat. Als er bemerkte, dass sich ab 2008 eine neue Wirtschaftskrise abzeichnete, habe er umgehend darauf reagiert. Er hat Respekt vor dem Geld der Anderen. Da der teuerste Faktor der Filmproduktion die Anzahl der Drehtage ist, stellte er »La Jalousie« in 21 statt der in Frankreich durchaus üblichen 40 fertig. Auch der Drehort war billig: seine eigene Wohnung. (Diese Austerität wäre ein schönes Thema für Thomas Arslan, der in Berlin in einen von Garrels Filmen einführt: Einen Western wie »Gold« mit einem Budget von zwei Millionen Euro zu realisieren, ist schon ein Kabinettstück.) Dieses Modell wolle Garrel für die nächsten ein, zwei Filme beibehalten, da er überzeugt sei, die Krise sei bis dahin überwunden. Ein bemerkenswertes Zutrauen in die Widerstandsfähigkeit des Kapitalismus! Wie sehr er dessen Mechanismen durchschaut, demonstriert Garrel in der Antwort auf die nächste Frage: Nein, es sei überhaupt nicht teurer, heutzutage einen Film noch auf 35mm zu drehen. Die Industrie habe die digitale Technik anfangs nur günstiger erscheinen lassen, um die leidige analoge Technik zu verdrängen. Mittlerweile zögen die Preise mächtig an. Es sei also gar nicht so schwierig einen Produzenten zu überzeugen, weiterhin auf Filmmaterial zu drehen – zumindest so lange, wie man es noch irgendwo auf der Welt bekommt.
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